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(3) Europarecht: Beim Europäischen Gemeinschaftsrechthandelt es sich um eine neben dem Völkerrecht bestehende supranationale Rechtsquelle, die gleichfalls dem innerstaatlichen Recht grundsätzlich vorgeht. Die Europäische Union besitzt als zwischenstaatliche Organisation eine eigenständige Rechtsetzungskompetenz. Diese wurde ihr im Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, der in Maastricht unterzeichnet und durch die Verträge von Amsterdam und Nizza reformiert wurde, übertragen. Durch den Vertrag von Lissabon (EUV, AEUV) wurde die Europäische Gemeinschaft in die Europäische Union überführt (primäres Gemeinschaftsrecht, Art. 23 Abs. 1 GG). Bei den vom Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission erlassenen Rechtsakten handelt es sich um sekundäres Gemeinschaftsrecht. Hierzu gehören insbesondere Verordnungen und Richtlinien.[13]
Vom primären Gemeinschaftsrechtsind für die Besteuerung in erster Linie die Grundfreiheiten der Gemeinschaftsbürger sowie das Beihilfeverbot bedeutsam. Die Grundfreiheitenumfassen folgende Rechte der Bürger der EU:
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allgemeines Diskriminierungsverbotaufgrund der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) |
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allgemeines Freizügigkeitsrecht, dh das Recht eines jeden Bürgers der EU, sich innerhalb der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Art. 21 AEUV) |
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Warenverkehrsfreiheit, dh das Verbot von mengenmäßigen und verschleierten Beeinträchtigungen sowie vergleichbarer Maßnahmen, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen (Art. 34 – Art. 37 AEUV) |
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Arbeitnehmerfreizügigkeit, dh das Recht eines jeden Arbeitnehmers auf Erwerbstätigkeit in jedem Mitgliedstaat, wobei hinsichtlich Beschäftigung, Entlohnung und den sonstigen Arbeitsbedingungen Gleichbehandlung zu gewährleisten ist (Art. 45 – Art. 48 AEUV) |
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Niederlassungsfreiheit, dh das Recht zur Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat sowie das Verbot einer Behinderung bei der Gründung und Leitung eines Unternehmens (Art. 49 – Art. 55 AEUV) |
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Dienstleistungsfreiheit, dh das Recht eines jeden Anbieters von Dienstleistungen auch in den anderen Mitgliedstaaten tätig zu sein (Art. 56 – Art. 62 AEUV) |
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Kapitalverkehrsfreiheit, dh das Verbot zur Behinderung des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten (Art. 63 – Art. 66 AEUV). |
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Die Grundfreiheiten sind unmittelbar anwendbares Recht. Jeder Bürger und jedes Unternehmen der Europäischen Union kann sich auf sie berufen, soweit grenzüberschreitende Sachverhalte betroffen sind. Die Grundfreiheiten beinhalten ein Diskriminierungsverbotund ein Behinderungsverbot: (a) Ausländische Steuerpflichtige dürfen bei ihrer Betätigung im Inland nicht höher belastet werden als inländische Steuerpflichtige, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden. (b) Grenzüberschreitende Aktivitäten eines inländischen Steuerpflichtigen dürfen nicht schlechter behandelt werden als vergleichbare rein nationale Vorgänge.
Nach dem Beihilfeverbotbesteht grundsätzlich das Verbot von staatlichen Beihilfen oder aus staatlichen Mitteln gewährten Beihilfen, die durch Begünstigung ausgewählter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, soweit sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen (Art. 107, Art. 108 AEUV). Als Begünstigung wird eine Minderung der üblicherweise anfallenden Belastung verstanden. Dazu gehören überhöhte Abschreibungen (zB Sonderabschreibungen), Bildung von überhöhten Passiva (zB steuerfreie Rücklagen), außerbilanzielle Abzüge von der Bemessungsgrundlage (zB Investitionsabzugsbetrag), Steuerbefreiungen, Steuergutschriften (Steuerermäßigungen), Zahlungsaufschub (Stundung) oder sonstige außergewöhnliche Vereinbarungen. Eine Maßnahme gilt als Beihilfe, wenn sie zu einem Einnahmeverzicht des Staates und zu einer Verbesserung der Stellung des begünstigten Unternehmens gegenüber Konkurrenten führt und sie auf bestimmte Unternehmen oder Branchen beschränkt ist. Bestimmte Beihilfen (zB sozialer Art, Beseitigung von Schäden einer Naturkatastrophe oder Förderung von Gebieten, in denen die Lebenshaltung ungewöhnlich niedrig ist oder eine erhebliche Unterbeschäftigung herrscht) sind ausnahmsweise zulässig.
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Verordnungensind, wie nationales Recht, für jedermann verbindlich. Sie gelten in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union unmittelbar (Art. 288 Abs. 2 AEUV). Verordnungen dienender Rechtsvereinheitlichung. Der alle grundlegenden zollrechtlichen Vorschriften zusammenfassende Unionszollkodex ist beispielsweise eine Verordnung.
Im steuerlichen Bereich sind Richtlinienvon größerer Bedeutung als Verordnungen. Richtlinien verpflichten die Mitgliedstaaten zu einer Anpassung der nationalstaatlichen Vorschriften an die darin vorgegebenen Ziele (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Richtlinien haben die Aufgabe der Rechtsangleichung, dh sie beschränken sich auf die Vorgabe eines Harmonisierungsziels. In welcher Form und mit welchen Mitteln dieses Vorhaben verwirklicht wird, bleibt innerhalb des vorgegebenen Rahmens den Mitgliedstaaten überlassen. Für den einzelnen Steuerpflichtigen sind die Regelungen einer Richtlinie grundsätzlich erst nach ihrer Transformation in innerstaatliches Recht verbindlich. Der Steuerpflichtige kann sich ausnahmsweise direkt auf eine Richtlinie berufen, wenn der Mitgliedstaat seiner Umsetzungsverpflichtung innerhalb der gesetzten Frist nicht nachgekommen ist, die getroffene Regelung inhaltlich hinreichend bestimmt ist und keine Bedingung enthält.
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Das Schwergewicht der Richtlinienliegt bislang im Bereichder Umsatzsteuer. Rechtsgrundlage für die Harmonisierung der indirekten Steuern (Umsatzsteuer, spezielle Verbrauchsteuern) bildet Art. 113 AEUV, nach dem sicherzustellen ist, dass der innergemeinschaftliche Waren- und Dienstleistungsverkehr durch steuerliche Regelungen nicht behindert wird. Die Einführung des Mehrwertsteuersystems, die Regelungen über die Bemessungsgrundlage oder den Ort der Leistung im deutschen Umsatzsteuergesetz sind weitgehend das Ergebnis einer Harmonisierung auf europäischer Ebene. Erhebliche Änderungen des deutschen Umsatzsteuergesetzes ergaben sich im Zusammenhang mit der Errichtung des europäischen Binnenmarktes und der Neufassung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie. Bei der Auslegung des nationalen Umsatzsteuergesetzes muss immer geprüft werden, ob dieses mit den Richtlinien vereinbar ist. Die Beschränkung der Verbrauchsteuernauf Energieerzeugnisse, Tabakwaren und Alkohol sowie die Bandbreiten der zulässigen Steuersätze sind durch drei Richtlinien zu den speziellen Verbrauchsteuern vorgegeben. Die konkrete Ausgestaltung der Verbrauchsteuergesetze in Bezug auf grenzüberschreitende Lieferungen von verbrauchsteuerpflichtigen Waren steht gleichfalls im Zusammenhang mit dem freien Waren- und Dienstleistungsverkehr innerhalb der EU.
Da von den direkten Steuern(insbesondere Einkommen- und Körperschaftsteuer) im Prinzip keine unmittelbaren Beeinträchtigungen des innergemeinschaftlichen Waren- und Dienstleistungsverkehrs ausgehen, gibt es für die Ertragsteuern nur wenige Richtlinien. Die Begrenzung der Harmonisierung im Bereich der direkten Steuern durch die Grundsätze der Subsidiarität und Erforderlichkeit ermöglicht den „Wettbewerb der Steuersysteme“. Für die Harmonisierung im Bereich der Ertragsteuern existiert keine spezielle Vorschrift, sie erfolgt im Rahmen der allgemeinen Angleichung der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten (Art. 115 AEUV). Ausnahmen sind die Richtlinie über Fusionen, Spaltungen, Einbringung von Unternehmensteilen und Austausch von Anteilen (Fusionsrichtlinie), die Richtlinie über die Besteuerung von Gewinnausschüttungen innerhalb eines grenzüberschreitend tätigen Konzerns (Mutter-Tochter-Richtlinie)sowie die Richtlinie über die Besteuerung von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (Zins-Lizenz-Richtlinie). In den letzten Jahren wurden diese durch die Richtlinie über Verfahren zur Beilegung von Besteuerungsstreitigkeiten in der EU ( Streitbeilegungsrichtlinie), die Richtlinie zur Bekämpfung von Steuermeidungspraktiken ( ATAD-Richtlinie) und die Ergänzung der Amtshilferichtlinie mit einer europaweiten, einheitlichen Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle ( DAC 6-Richtlinie) erweitert.
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