20
Die vom Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes vorausgesetzte grundsätzliche Anwendbarkeit einer Norm kann im Einzelfall allerdings zweifelhaft sein (näher Rn. 135 ff.; zur Wirksamkeit siehe Rn. 129 ff.). So bejaht die Rechtsprechung beispielsweise zwar die Geltung der Grundrechte (v.a. Art. 3 Abs. 1 GG) und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich des Verwaltungsprivatrechts, in dem ein Träger öffentlicher Verwaltung eine öffentliche Aufgabe (z.B. öffentlicher Personennahverkehr) in Privatrechtsform (z.B. AG, GmbH) wahrnimmt (Argument: „keine Flucht ins Privatrecht“; Rn. 53), verneinte sie aber mitunter – entgegen dem Schrifttum – unter Hinweis auf das Fehlen eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses bei der Vornahme von fiskalischen Hilfsgeschäften zur Bedarfsdeckung („Staat als Kunde“, z.B. Behörde kauft Büromaterial) oder der erwerbswirtschaftlichen Betätigungdes Staates („Staat als Unternehmer“, z.B. Beteiligung an Unternehmen);[5] Entsprechendes galt für die Verwaltung von Vermögensgegenständendurch den „Staat als Eigentümer“ (z.B. Vermietung von öffentlichen [Werbe-]Flächen).[6] Diese ältere Judikatur der Instanzgerichte hat das BVerfG jedoch mit dem zutreffenden Hinweis darauf ausdrücklich zurückgewiesen, dass die Grundrechte nicht nur für bestimmte Bereiche, Funktionen oder Handlungsformen staatlicher Aufgabenwahrnehmung gelten, sondern die öffentliche Gewalt umfassend und insgesamt binden. Deren unmittelbare Bindung an die Grundrechte hängt weder von der Organisations-[7] noch von der Handlungsform[8] ab. „Für die früher verbreitete Auffassung, wonach die ,fiskalische‘, das heißt die privatrechtlich handelnde Verwaltung jenseits des sogenannten Verwaltungsprivatrechts grundsätzlich keiner Grundrechtsbindung unterliege, ist mit Blick auf Art. 1 Abs. 3 GG […] kein Raum.“[9]
Beispiel[10]
Die radikale Partei P unterhält bei der Stadtsparkasse S (Anstalt des öffentlichen Rechts gem. § 1 L-SpkG) ein Girokonto. Nach einem bundesweit ausgestrahlten Fernsehbericht über die Aktivitäten von P kündigt S unter Hinweis auf die ihrer Ansicht nach verfassungsfeindliche Zielsetzung von P die Geschäftsbeziehung mit dieser. Mit der Begründung, dass die Kündigung gesetzwidrig und damit unwirksam sei, klagt P gem. § 256 Abs. 1 ZPO vor dem zuständigen Zivilgericht auf Feststellung, dass der Girovertrag durch die Kündigung nicht beendet worden ist. Hat P in der Sache Erfolg?
Ja. Denn die Kündigung verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG und ist daher gem. § 134 BGB nichtig. Als Anstalt des öffentlichen Rechts (§ 1 L-SpkG) im Bereich staatlicher Daseinsvorsorge, nämlich der Versorgung mit geld- und kreditwirtschaftlichen Leistungen inkl. der Eröffnung der Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr, ist S Teil der vollziehenden Gewalt und damit gem. Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden. Dass S diese Aufgaben mit Mitteln des Privatrechts erfüllt und der Girovertrag zwischen den Parteien privatrechtlicher Natur ist, ändert nichts an der unmittelbaren Grundrechtsbindung von S. Vielmehr ist die öffentliche Hand auch dann unmittelbar an die Grundrechte gebunden, wenn sie öffentliche Aufgaben in privatrechtlichen Rechtsformen wahrnimmt. Die vorliegend mithin anwendbare Grundrechtsbestimmung des Art. 3 Abs. 1 GG ist in ihrer Ausprägung als Willkürverbot dann verletzt, wenn sich ein sachgerechter Grund für die betreffende Maßnahme der öffentlichen Gewalt nicht finden lässt. Als derartigen Sachgrund für die Kündigung hat S die verfassungsfeindliche Zielsetzung von P angeführt. Hierauf kann sich S wegen der Sperrwirkung des Art. 21 Abs. 4 GG allerdings nicht berufen. Nach dieser Vorschrift entscheidet über die Verfassungswidrigkeit einer Partei allein das BVerfG. Hierbei handelt es sich i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG um eine Privilegierung der politischen Parteien gegenüber allen anderen Vereinigungen und Verbänden (vgl. Art. 9 Abs. 2 GG). Bis zu einer entsprechenden Entscheidung des BVerfG kann niemand die Verfassungswidrigkeit einer Partei rechtlich geltend machen. Die Partei soll in ihren politischen Aktivitäten von jeder rechtlichen Behinderung frei sein, solange sie mit allgemein erlaubten Mitteln arbeitet. Die Kündigung stellt eine solche unzulässige rechtliche Behinderung dar. Sie greift zwar nicht unmittelbar in die politische Tätigkeit von P ein, beeinträchtigt aber deren Betätigungsfreiheit wesentlich. P ist bei ihrer Arbeit auf die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr angewiesen. Anders kann sie Zahlungen von existenzieller Bedeutung, nämlich die staatliche Teilfinanzierung (§ 18 Abs. 1 S. 1 ParteiG), nicht entgegennehmen. Auch die Begleichung von Mieten, Telefongebühren oder von Rechnungen im Zusammenhang mit Parteiveranstaltungen ist in weitem Umfang ohne Girokonto praktisch nicht durchführbar.
21
Abhängig von der jeweiligen Handlungsform der Verwaltung sowie der Schwere der Rechtsverletzung hat ein Verstoß gegen den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes zumindest die Rechtswidrigkeit, ggf. aber sogar die Nichtigkeit der betreffenden Verwaltungsmaßnahme zur Folge(zum Verwaltungsakt: Rn. 212 ff., 246 f.; zum öffentlich-rechtlichen Vertrag: Rn. 112 ff.; zu Rechtsverordnungen und Satzungen: Rn. 132).
Hinweis
Namentlich die Prüfungspunkte „ formelle Rechtmäßigkeit“ ( Rn. 139 ff.) und „ materielle Rechtmäßigkeit“ ( Rn. 215 ff.) des Verwaltungsakts sind Ausfluss des Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes.
[Bild vergrößern]
[1]
In § 54 S. 1 VwVfG a.E. ( Rn. 102) ist der Vorrang des Gesetzes einfachgesetzlichpositiviert.
[2]
Detterbeck Jura 2002, S. 235; Gusy , JA 2002, 610 (611); Hölscheidt JA 2001, 409; Wehr JuS 1997, 231; Wienbracke Staatsorganisationsrecht, S. 10 f. m.w.N.
[3]
Nach VGH Kassel DAR 2016, 341.
[4]
Degenhart Staatsrecht I Rn. 310 f.; Detterbeck Jura 2002, S. 235 (236); Maurer/Waldhoff Allgemeines Verwaltungsrecht § 6 Rn. 2.
[5]
Zum Ganzen siehe Wienbracke Einführung in die Grundrechte Rn. 108 m.w.N.
[6]
Vgl. Erbguth StudZR 2011, 17 (27).
[7]
Hierzu siehe BVerfG NJW 2016, 3153 (3154) m.w.N.: „Die Wahl der Organisationsform hat keine Auswirkungen auf die Grundrechtsbindung des Staates oder anderer Träger öffentlicher Gewalt. Das gilt nicht nur dann, wenn sie ihre Aufgaben unmittelbarselbst oder mittelbar durch juristische Personen des öffentlichen Rechtserfüllen, sondern auch dann, wenn sie auf privatrechtliche Organisationsformenzurückgreifen. Das gilt auch für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen des Privatrechts, solange sie diese beherrschen. In diesen Fällen trifft die Grundrechtsbindung nicht nur die dahinterstehende Körperschaft des öffentlichen Rechts, sondern auch unmittelbar die juristische Person des Privatrechts selbst“.
[8]
Hierzu siehe BVerfG NJW 2016, 3153 (3154) m.w.N.: „Die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt gilt auch unabhängig von den gewählten Handlungsformen und den Zwecken, zu denen sie tätig wird. Sobald der Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt eine Aufgabe an sich ziehen, sind sie bei deren Wahrnehmung an die Grundrechte gebunden. Dies gilt auch, wenn sie insoweit auf das Zivilrecht zurückgreifen. Eine Flucht aus der Grundrechtsbindung in das Privatrechtmit der Folge, dass der Staat unter Freistellung von Art. 1 Abs. 3 GG als Privatrechtssubjekt zu begreifen wäre, ist ihm verstellt. Unerheblich ist auch, ob die für den Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt handelnde Einheit ,spezifische‘ Verwaltungsaufgabenwahrnimmt, ob sie erwerbswirtschaftlichoder zur reinen Bedarfsdeckungtätig wird (‚fiskalisches‘ Handeln) und welchen sonstigen Zwecksie verfolgt.“
Читать дальше