b) Konsultation des Parlaments zu Vertragsentwürfen der Gemeinschaft
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In Frankreich gab es lange Zeit kein besonderes Interesse daran, das (nationale) Parlament in die Europapolitik einzubeziehen. Erst 1992 erhielt es ein Recht auf Einsichtnahme in die wichtigsten Gemeinschaftsentscheidungen. Aus Anlass der Verfassungsänderung zur Ratifizierung des Vertrages von Maastricht wurde Art. 88–4 in die Verfassung aufgenommen. Die Regierung präsentierte ihn als Kompensation für den durch die erneute Übertragung von Kompetenzen an die Gemeinschaften entstandenen Verlust gesetzgebender Gewalt. Die Vorschrift stellt sicher, dass die Regierung beiden Kammern Entwürfe zu Gemeinschaftsverträgen mit Gesetzescharakter vorlegt. Die Kammern äußern sich zu einer in Rede stehenden Übertragung von Kompetenzen auf die Europäische Union, wobei ihre Auffassung durch Annahme einer Resolution formalisiert werden kann. Diese Resolutionen sind für die Regierung bei ihren Brüsseler Verhandlungen nicht bindend. Dieses Verfahren ist 1992 geschaffen worden, um das Parlament zu stärken. Damit sollte die Übertragung von Gesetzgebungszuständigkeiten an die EG ausgeglichen werden.[17] Es wird aber diskutiert, ob das Verfahren dem Parlament tatsächlich ermöglicht, einen gewissen Einfluss auszuüben.[18] Auf jeden Fall stärkt die Einbindung des Parlaments die französische Regierung gegenüber ihren Partnern. Daraus leiten manche Kommentatoren ab, dass Art. 88–4 CF, anstatt das Parlament mit neuen Handlungsvollmachten auszustatten, eher die Exekutive stärkt.[19]
2. Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bevölkerung
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In der Absicht, die Macht des Parlaments einzuschränken und die Exekutive zu stärken, räumt die französische Verfassung dem Staatsoberhaupt die Möglichkeit ein, jederzeit das Volk anzurufen und gesetz- (Art. 11) oder verfassunggebende (Art. 89) Referenden anzusetzen. Die Durchführung eines Referendums ist dabei immer fakultativ. Im Gegensatz zu General de Gaulle, der auf die Durchführung von Referenden geradezu versessen war, haben seine Nachfolger wesentlich weniger auf dieses Instrument zurückgegriffen. Von den fünf Referenden seit dem Rücktritt de Gaulles hatten drei einen Bezug zum Aufbau Europas.
a) Ambivalenz des Rückgriffs auf den Volksentscheid
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Die Ergebnisse der Referenden zum Beitritt Englands (1972), zur Ratifizierung des Vertrags von Maastricht (1992) und zur Ratifizierung des VVE (2005) zeigen die ganze Ambivalenz eines Rückgriffs auf Volksentscheide. Denn keiner dieser Volksentscheide war angesichts der unvermeidlichen Konfusion mit anderen Zielen in seiner politischen Botschaft eindeutig. Obwohl Referenden eigentlich dazu bestimmt sind, den Bürgern eine direkte Mitwirkung an politischen Entscheidungen zu ermöglichen, sind sie für die, die sie ansetzen – in Frankreich ausschließlich der Staatspräsident – immer auch ein Mittel, sich des Rückhalts in der Bevölkerung zu vergewissern oder die parlamentarische Opposition auszuschalten. Diese Ambivalenz wird in europäischen Fragen besonders deutlich, weil diese nicht beständig in die politische Diskussion einfließen oder sonst im Mittelpunkt des politischen Interesses stehen. Die Bürger werden somit aufgefordert, sich zu einer Frage zu äußern, die ihnen häufig fremd oder gleichgültig ist, und für die Politiker ist die Versuchung groß, in die Diskussion über Europa innenpolitische Aspekte einfließen zu lassen. Sicher steht das Scheitern der Linken in den Kreis- und Regionalwahlen von 1992 im Zusammenhang mit der Entscheidung Präsident Mitterrands, zur Stärkung seiner Popularität ein Referendum über die Ratifizierung des Vertrags von Maastricht anzusetzen. Ebenso tragen das Scheitern der Rechten in den Regionalwahlen von 2004 und die Absicht, von der Spaltung innerhalb der größten Oppositionspartei, der sozialistischen Partei (PS), zu profitieren, zur Erklärung bei, weshalb Präsident Chirac auch bei der Ratifizierung des VVE auf ein Referendum gesetzt hat. Diese Gemengelage – die Hintergedanken der Politiker, die technokratisch formulierten Fragen, die Unkenntnis über Europa sowie das Gefühl, dass die Würfel bereits gefallen sind – mindern die Mitwirkungsbereitschaft der Bürger oder begünstigen eine Ablehnung der Verträge. Die Beteiligung am Referendum von 1972 war relativ schwach (etwa 60% gegenüber beinahe 80% anlässlich des von de Gaulle angesetzten Referendums); die Beteiligung am Referendum von 1992 betrug dagegen über 70%, doch gab es für das „Ja“ zum Maastrichter Vertrag nur eine hauchdünne Mehrheit (knapp 51%). Das Referendum vom 29. Mai 2005 über die Ratifizierung des VVE entsprach den vorangegangenen Volksbefragungen: Bei einer Beteiligung von wiederum 70% wurde der VVE mit 54,87% der abgegebenen Stimmen abgelehnt.
b) Bedeutung der sozioökonomischen Diskrepanzen
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Beinahe alle Untersuchungen zum Referendum von 1992 offenbaren eine Diskrepanz zwischen Städten und gesellschaftlichen Eliten einerseits sowie der Landbevölkerung und weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen andererseits.[20] Während erstere ihre Zustimmung zum Aufbau Europas typischerweise bekräftigen, manifestieren letztere ihre Ablehnung und Furcht gegenüber einem Phänomen, das sie nicht verstehen und das ihnen nicht nur Vorteile bringt. Die ersten Untersuchungen der Ergebnisse des Referendums vom Mai 2005 bestätigen diese Schlussfolgerungen teilweise, weisen aber auch auf einen wesentlichen Wandel hin.[21] 1992 war die Mittelschicht in zwei Gruppen gespalten: Die Angestellten der Privatwirtschaft neigten eher dazu, den Vertrag von Maastricht abzulehnen, während der öffentliche Dienst ihn unterstützte. 2005 hat sich der öffentliche Dienst dagegen massiv den Gegnern des VVE angeschlossen. Der Wirtschaftsexperte Eric Maurin erklärt dies mit der zunehmenden Segmentierung der Gesellschaft,[22] die auch an typischen, in der Gesellschaft anzutreffenden Überlegungen zur Wahl des Wohnsitzes, die auf den Schulbesuch zurückwirken, deutlich wird, oder in der Neigung der Oberschichten, „unter sich“ zu bleiben und einen Großteil der Mittelschicht auszugrenzen. Für letztere ist die Angst vor ihrer Marginalisierung angesichts mangelnder Perspektiven eines sozialen Aufstiegs und des Risikos der Arbeitslosigkeit so greifbar, dass sie sich in den Abstimmungsergebnissen niederschlägt.
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Insgesamt lässt sich die Ablehnung des VVE mit dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren erklären. Manche waren konjunkturell bedingt und beruhten auf einer Reihe von Missverständnissen, aber auch auf der Missachtung der europäischen Herausforderungen aus Gründen des persönlichen Ehrgeizes. Vor allem Letzteres erklärt die verzerrte Darstellung des VVE durch einige seiner „gemäßigten“ Gegner, etwa den ehemaligen sozialistischen Premierminister Laurent Fabius, aber auch der Umstand, dass manche in der Ablehnung des VVE das einzige Mittel sahen, Europa sozial und politisch voranzubringen. Zu den Ursachen für die Ablehnung gehört ferner die Vermischung von Verfassungs- und Erweiterungsfragen, weil die Verfassungsdebatte von einigen Vertragsgegnern geschickt mit der Frage des Beitritts der Türkei verknüpft wurde. Schließlich haben zahlreiche Wähler die Abstimmung über den VVE mit einem Referendum über seinen Urheber verwechselt und die Gelegenheit ergriffen, ihre Ablehnung der Politik der Regierung und des Staatspräsidenten zu artikulieren.
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Neben diesen tagespolitischen Faktoren sind aber auch tiefgreifendere Gründe für die Ablehnung des Verfassungsvertrags zu erkennen. Zunächst hat das Referendum die Stärke der allesamt europafeindlichen extremen Rechts- und Linksparteien bestätigt, die zusammen etwa ein Viertel des Wählerpotentials ausmachen. Darüber hinaus hat die Kampagne zum Volksentscheid die schleichende Fremdenfeindlichkeit in der französischen Gesellschaft deutlich gemacht. Insofern basiert das Votum vom 29. Mai zum Teil auch auf der Furcht vor einer Bedrohung der Arbeitsplätze durch ausländische Arbeitnehmer, einer Motivation, die nicht nur für die Wählerschaft der Extremparteien maßgebend war.[23] Die Furcht vor dem „polnischen Klempner“, der seinem französischen Kollegen den Arbeitsplatz wegnimmt, wurde in politischen Debatten und in den Medien hochgespielt. Er wurde von einem Teil der Linken gleichsam als Inbegriff des „Wirtschaftsliberalismus“ stigmatisiert. Drittens haben die hohe Arbeitslosigkeit und eine ungewisse Zukunft zahlreiche Wähler dazu verleitet, den VVE abzulehnen.[24] Die Monate vor dem Referendum haben schließlich die Unfähigkeit der führenden Politiker bestätigt, die europäischen Herausforderungen deutlich zu machen. Da die EU allgemein als Ursache von Zwängen oder Ort von Kuhhandel präsentiert wird, konnte sie den Franzosen nicht plötzlich als begeisterungswürdiges politisches Projekt erscheinen, zumal die Anhänger des „Ja“ kein überzeugendes Konzept für Frankreich und Europa vorgelegt hatten. Die Auswirkungen dieses Votums auf den Fortgang der europäischen Integration und die französische Politik sind bislang nicht vorhersehbar. Mit der Ernennung eines neuen Premierministers zwei Tage nach dem Referendum ist es sicher nicht getan. Es scheint, als könnte nur eine spürbare Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sowie eine grundlegende Politikerneuerung die Ängste zahlreicher Franzosen vor dem Fortgang der Integration zerstreuen und Vertrauen in den weiteren Aufbau Europas schaffen.
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