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Wann immer der Conseil constitutionnel eine Unvereinbarkeit zwischen Vertrag und Verfassung festgestellt hat, wurde die französische Verfassung dahingehend geändert, dass der Widerspruch zwischen Verfassung und Vertrag beseitigt wurde.[56] Im Juni 1992 sprach sich das Parlament mit großer Mehrheit für die Aufnahme neuer Artikel in die Verfassung aus. Seither autorisiert Art. 88–2 CF „die zur Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion erforderlichen Kompetenzübertragungen“ sowie die „zur Festlegung der Regelungen über die Überschreitung der äußeren Grenzen der Mitgliedstaaten der europäischen Gemeinschaft“ erforderlichen Kompetenzübertragungen. Art. 88–3 CF ermöglicht es, in Frankreich ansässigen Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten das Wahlrecht bei Kommunalwahlen einzuräumen. Die Beteiligung an Senatswahlen ist ihnen gleichwohl untersagt; auch können sie nicht das Amt eines Bürgermeisters oder seines Stellvertreters bekleiden. Der Conseil constitutionnel hatte in seiner Entscheidung[57] zwar keinen Bezug auf den Sonderfall der Bürgermeister und ihrer Stellvertreter genommen; doch haben Regierung und Parlament entschieden, auf die vom Vertrag eingeräumte Ausnahmeregelung, wenn „für einen Staat spezifische Probleme dies rechtfertigen“ (Art. 19 EG), zurückzugreifen. In Frankreich sind die Bürgermeister und ihre Stellvertreter nicht nur Repräsentanten der lokalen Bevölkerung. In ihrer Eigenschaft als Beamte der Kriminalpolizei und des Standesamtes, die ferner mit der Bekanntmachung von Gesetzen und Vorschriften beauftragt sind, repräsentieren sie auch den Staat. Es bestand deshalb Einvernehmen darüber, dass diese im Auftrag des Staates übernommenen Funktionen nur Franzosen anvertraut werden können.[58]
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Vor Ratifizierung des Amsterdamer Vertrages modifizierte das Verfassungsgesetz vom 25. Januar 1999 Art. 88–2 Abs. 2 CF, so dass dieser nunmehr die „zur Festlegung der Vorschriften über den freien Personenverkehr und der an ihn gebundenen Bereiche erforderlichen Kompetenztransfers“ gestattet. Der Beschluss des Conseil constitutionnel und die Verfassungsänderung sind insoweit direkte Folge der Entscheidungen von 1992 und waren durchaus vorhersehbar.
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Das Verfassungsgesetz vom 1. März 2005 zieht die Konsequenzen aus dem Beschluss des Conseil constitutionnel zum VVE.[59] Das für die Genehmigung der Übertragung von Zuständigkeiten in den vom Conseil constitutionnel festgelegten Bereichen gewählte Verfahren unterscheidet sich allerdings von dem vorangegangener Revisionen. Statt einen Artikel pro Bereich wie in den Jahren 1992 oder 1997 vorzusehen, hat es der Verfassunggeber vorgezogen, sämtliche Unvereinbarkeiten mit Bezug auf den VVE abzudecken (vgl. Art. 88–1 CF). Ins Detail ist er nicht gegangen, mit Ausnahme des Widerspruchsrechts des Parlaments gegen die einfache Vertragsrevision (Art. IV-444 VVE) und des Subsidiaritätsprinzips (Art. I-11 VVE und Protokolle 1 und 2), da hierzu eine ausdrückliche Bestimmung erforderlich war. Die Genehmigung einer Mitwirkung Frankreichs an der EU „unter den vom Vertrag für die Einführung einer europäischen Verfassung vorgesehenen Bedingungen“ (Art. 88–1 CF) hilft, einen schwerfälligen Text oder Lücken zu vermeiden, wie sie vielleicht eine Kompetenzliste mit sich gebracht hätte. Wenngleich dies nicht beabsichtigt war, ermöglicht dieses Verfahren auch, sich über Ungereimtheiten des Beschlusses des Conseil constitutionnel hinwegzusetzen. Da sich der Vertrag auf den VVE bezieht, dürfte die Interpretation der zuständigen Instanzen, insbesondere der europäischen Richter, maßgeblich sein. Der ausdrückliche Bezug ermöglicht auch die 1992 mit Bezug auf den Vertrag von Maastricht begonnene weitere Verankerung des Gemeinschaftsrechts in der Verfassung und kann die Besonderheit der europäischen Integration im Vergleich zu anderen Entwicklungen des internationalen Rechts bestätigen.
Erster Teil Offene Staatlichkeit› § 15 Offene Staatlichkeit: Frankreich› III. Die Thematik „Europäische Menschenrechtskonvention“
III. Die Thematik „Europäische Menschenrechtskonvention“
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Die französischen Behörden haben die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), so lange sie konnten, hinausgezögert (1). Aufgrund der verspäteten Ratifizierung konnte sie in Frankreich erst zu Beginn der 1970er Jahre Anwendung finden. Von da an haben sich die Gerichte mit ihr befasst und greifen zunehmend auf sie zurück (2). Wie das Gemeinschaftsrecht hat auch die Konvention die Stellung der Gerichte im französischen Institutionengefüge gestärkt.
1. Das zögerliche Verhalten der Staatsorgane
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In den Jahren 1949/1950 gehörte die französische Regierung zu den Initiatoren der EMRK. Bedeutende französische Juristen wie René Cassin und Pierre-Henri Teitgen haben eine maßgebliche Rolle bei der gedanklichen Ausarbeitung des Textes und den anschließenden Verhandlungen gespielt. René Cassin stand gar dem EGMR vor. Frankreich gehört zu den Gründerstaaten des Europarats und zu den ersten Unterzeichnern der Konvention. Dennoch benötigte es beinahe 30 Jahre, bis es die Konvention ratifizierte (a) und das Recht auf Einzelbeschwerde vor dem EGMR zuließ (b).
a) Späte Ratifizierung der Konvention
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Trotz zweier Versuche (1953 und 1956) kam es erst 1974 zur Ratifizierung, über zwanzig Jahre nach der Unterzeichnung des Textes im Jahre 1950. Vor allem zwei Gründe erklären diese späte Ratifizierung: Zunächst der Algerienkrieg. Regierung und Parlament zögerten den Zeitpunkt der Übernahme des Textes in französisches Recht aus der Furcht heraus in die Länge, dass bei Anwendbarkeit der Konvention in Frankreich bestimmte Praktiken der französischen Armee in Algerien gerichtlich hätten verfolgt werden können. Der zweite, lange über das Ende des Algerienkriegs 1962 fortwirkende Grund, ist auf den Nationalstolz zurückzuführen. Das nach der Rückkehr de Gaulles an die Macht 1958 besonders intensive Bemühen um nationale Unabhängigkeit erzeugte großes Misstrauen gegenüber von außen „aufgezwungenen“ Vorschriften. Zudem trug der Stolz darauf, „die Heimat der Menschenrechte“ zu sein, bei manchen Politikern zu der Annahme bei, die EMRK sei nutzlos, ihre Annahme gar gefährlich. Die Konvention war aus dieser Sicht nicht erforderlich, weil Frankreich stolz auf eine umfassende Gerichtsbarkeit und auf Richter sein konnte, die insbesondere die Achtung der Menschenrechte sicherten. Von einer Ratifizierung der EMRK befürchtete man Verwirrung oder gar eine Senkung des von den französischen Institutionen gewährten Schutzstandards. Eine merkwürdige Mischung aus Überlegenheitsgefühl und Furcht vor eventuellen Folgen der Konvention für Frankreich hat ihre Ratifikation somit lange Zeit verhindert.[60]
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Ein Einstellungswandel vollzog sich erst unter der Präsidentschaft von Georges Pompidou. Der Wille, das Europa der Menschenrechte voranzubringen, und die Furcht vor einer Isolierung Frankreichs besiegten die Vorbehalte. Dennoch standen sich weiterhin zwei Lager gegenüber. Die Regierungsmehrheit wünschte eine Ratifizierung mit Vorbehalten und lehnte das Recht auf Einzelbeschwerde kategorisch ab; die Opposition dagegen forderte eine weitergehende Übernahme. Natürlich behielt die Mehrheit in der Assemblée nationale bei dieser Entscheidung die Oberhand. Die Ratifizierung wurde im Mai 1974, kurz nach dem Tod von Präsident Pompidou, auf den Weg gebracht. Trotz Anerkennung der obligatorischen Zuständigkeit des EGMR lehnte Frankreich das Recht auf Einzelbeschwerde ab. Außerdem wurde die Ratifizierung von einer Erklärung, die auf die Erhaltung des Monopols der nationalen Einrichtung für audiovisuelle Übertragungen abzielte (die Art. 10 EMRK betraf und inzwischen zurückgenommen wurde), von zwei Vorbehalten begleitet. Einer schloss die Anwendung des Disziplinarsystems der EMRK auf die Streitkräfte aus. Der andere bezieht sich auf Art. 15 EMRK, der bei außergewöhnlichen Umständen Ausnahmen zulässt, und auf Art. 16 CF, der dem Staatspräsidenten in schwerwiegenden Fällen die Befugnis zugesteht, sich mit uneingeschränkten Vollmachten auszustatten. Gemäß diesem Vorbehalt ist jede Anwendung von Art. 16 CF mit der Konvention vereinbar.
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