bb) Die Verfassung als Schranke der Übernahme des Gemeinschaftsrechts
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Anlässlich der Prüfung der Vereinbarkeit des Primärrechts mit der Verfassung sowie der Prüfung der Ratifikationsgesetze hat der Conseil constitutionnel klargestellt, welche Verfassungsnormen einer Ratifizierung der Verträge entgegenstehen könnten. Diese Normen dürfen nur durch eine Verfassungsänderung modifiziert werden. In seiner am 9. April 1992 zum Vertrag von Maastricht[43] gefällten Entscheidung hat der Conseil constitutionnel seine frühere Rechtsprechung über das Verhältnis von französischem und internationalem Recht neu gestaltet und zusammengefasst. Ihre Leitgedanken wurden anlässlich seiner Prüfung des Vertrags von Amsterdam[44] und danach des VVE[45] bestätigt. Zur Bewertung der Vereinbarkeit einer Vertragsänderung mit der französischen Verfassung wurden vom Verfassungsgericht drei Kriterien herausgestellt:
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Erstens darf der Vertrag nicht in Widerspruch zu einer ausdrücklichen Verfassungsregel stehen. Der Conseil constitutionnel stellt allerdings nur selten ein solches Hindernis fest, da Verträge und Verfassung nicht das gleiche Ziel verfolgen. Die Stärkung der nationalen Parlamente durch den VVE von 2004 hat die Verfassungsrichter dennoch hellhörig gemacht. Die Parlamente sollen danach befugt sein, gegen eine einfache Vertragsänderung vorzugehen (alleiniger Beschluss des Europäischen Rats gemäß Art. IV-444 VVE), obwohl die französische Verfassung dem Parlament eine solche Befugnis nicht zuerkennt. Aus dem Fehlen einer ausdrücklichen Regelung in der französischen Verfassung zum Äußerungsrecht des Parlaments leitete er die Unvereinbarkeit des Vertrages mit der Verfassung ab.[46]
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Zweitens darf eine Änderung des Primärrechts die durch die französische Verfassung garantierten Grundrechte nicht beeinträchtigen. Diese Garantie basiert auf der Erklärung der Menschenrechte von 1789, der Präambel der Verfassung von 1946 und den vom Conseil constitutionnel entwickelten „von den Gesetzen der Republik anerkannten Grundprinzipien“ (auf der Basis der Präambel von 1946). Vertrat der Conseil constitutionnel bis 2004 die Auffassung, dass die vom EuGH ausgeübte Kontrolle der Achtung der Grundrechte eine ausreichende Garantie darstelle, und beurteilte er weder den Vertrag von Maastricht[47] noch den VVE[48] in diesem Punkt als mit der Verfassung unvereinbar, so scheint die Entscheidung zum VVE eher von dem Bestreben geprägt, die sich aus dem Vergleich zwischen der EU-Grundrechtecharta und der französischen Verfassung ergebenden Grauzonen und Konfliktlinien zu ignorieren bzw. zu bagatellisieren. Wie mehrere Autoren zu Recht festgestellt haben, legt der Conseil constitutionnel in seinen Analysen des Ineinandergreifens von nationaler Rechtsordnung und europäischem Recht eine überaus laxe Haltung an den Tag.[49] Beispielsweise vertritt er die Auffassung, Frankreich könne Minderheiten weiterhin die Zuerkennung von Kollektivrechten verweigern – im Namen der Unteilbarkeit der Republik (Art. 1 CF) etwa den Korsen[50] –, denn Art. II-112 VVE lege fest, dass die Grundrechte „im Einklang“ mit den nationalen Verfassungstraditionen zu interpretieren seien. Dabei wird diese Bestimmung nur auf die den nationalen Traditionen entstammenden Grundrechte angewandt, nicht aber auf die vom EGMR anerkannten Minderheitenrechte.
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Drittens, und hier handelt es sich um das am schwierigsten zu interpretierende Kriterium, darf ein Vertrag zur Änderung des Primärrechts nach Auffassung des Conseil constitutionnel die „Grundvoraussetzungen der nationalen Souveränität“ („conditions essentielles d’exercice de la souveraineté nationale“) nicht beeinträchtigen.[51] Bei dieser Formulierung handelt es sich um einen vom Conseil constitutionnel geprägten Begriff. Zwei Bestimmungen der Verfassung beziehen sich auf die Souveränität: Art. 3 CF, nach dem „die nationale Souveränität dem Volk gehört“, und die Präambel von 1946, die „zur Organisation und Erhaltung des Friedens erforderliche Souveränitätsbeschränkungen“ zulässt. Ausgehend vom Begriff der Souveränität, wie er im Verfassungstext verwendet wird, hat der Conseil constitutionnel Schlussfolgerungen gezogen, deren Konturen er nie klar definiert hat, deren Sinn jedoch vor dem Hintergrund seiner Rechtsprechungslinie begreifbar wird. Das vom Conseil constitutionnel vertretene Souveränitätskonzept ist national. Die vom Vertrag von Maastricht eingeführte Anerkennung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten war daher unvereinbar mit der Verfassung, gelten als Wähler nach der Verfassung doch ausschließlich Staatsbürger (Art. 3). Zudem werden die Senatoren von einem Kollegium berufen, in dem auch Gemeinderäte sitzen. Und der Senat, die zweite Kammer, vertritt die Gebietskörperschaften und übt die nationale Souveränität direkt aus (Art. 24 CF). Nur französische Staatsbürger können deshalb diejenigen bestimmen, die ihrerseits die Senatsmitglieder berufen. Diese Grundvoraussetzungen für die Ausübung der nationalen Souveränität sind nicht eingehalten, wenn sich auch Ausländer an der Wahl von Senatoren beteiligen.[52] Dagegen beeinträchtigt die Zulassung von ausländischen Unionsbürgern zu Europawahlen die nationale Souveränität nach Auffassung des Conseil constitutionnel insofern nicht, als das Europaparlament keine nationale Souveränität ausübt.[53] Die Beschäftigung von Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten im öffentlichen Dienst stellt gleichfalls keine Beeinträchtigung der nationalen Souveränität dar, weil „von der Souveränität nicht zu trennende“ Funktionen Staatsbürgern vorbehalten bleiben können (Art. 39 Abs. 4, 45 EG).[54]
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Im Übrigen darf die Ausübung der Souveränität in ihren vom Conseil constitutionnel 1985 beschriebenen Grundvoraussetzungen („conditions essentielles“) nicht in Frage gestellt werden,[55] d.h. die Pflicht des Staates, die Institutionen zu respektieren und das Fortleben der Nation zu gewährleisten. Da beide Grundvoraussetzungen relativ vage sind, kann nur die Rechtsprechung ihre Konkretisierung im Einzelfall leisten. Deshalb verlangt der Conseil constitutionnel , dass oberhalb einer gewissen Schwelle die Übertragung von Kompetenzen auf internationale Einrichtungen einer Verfassungsänderung bedarf, insbesondere in mit der Souveränität traditionell verbundenen Bereichen wie Währung, Polizei und Justiz. Diese Schwelle ist überschritten, wenn die Kompetenzübertragung zu weitreichend ist oder die Regeln zur Beschlussfassung die Entscheidungsfreiheit Frankreichs nicht wahren. Die Bestimmungen des Vertrages von Maastricht zur Einführung des Euro wurden vor diesem Hintergrund als nicht mit der Verfassung vereinbar beurteilt, da mit ihnen die gesamte Währungskompetenz aufgegeben wurde. In der Visumspolitik (früher Art. 100 C EGV) entsprachen die Regeln der Beschlussfassung nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Namentlich wahrte der vorgesehene Entscheidungsmodus im Ministerrat nicht ausreichend die Entscheidungsbefugnis der französischen Institutionen, da hier die Einstimmigkeitsregel im Jahr 1996 aufgegeben worden war. Diese Aufgabe kann zwar die Übernahme von Gemeinschaftsregelungen erleichtern; doch ermöglicht sie durch den Verlust des Vetorechts auch, einem Staat Regelungen aufzuzwingen, die er ablehnt. Aus den gleichen Gründen wurden die Regelungen des Amsterdamer Vertrages über die in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fallende Einwanderungs- und Asylpolitik (Art. 63ff. EG) als unvereinbar mit den „Grundvoraussetzungen der Souveränitätsausübung“ erachtet. Das Einstimmigkeitserfordernis im Ministerrat blieb zwar für eine Dauer von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages bestehen, doch war danach der Übergang zur qualifizierten Mehrheit und Mitentscheidung des Europäischen Parlaments bereits vorgesehen – in einigen Bereichen bindend und in anderen fakultativ (Art. 67 EG). Als logische Folge aus dieser Rechtsprechung vertrat der Conseil constitutionnel schließlich auch die Auffassung, dass die im VVE vorgesehenen Kompetenzübertragungen die „Grundvoraussetzungen der Souveränitätsausübung“ beeinträchtigten und daher mit der Verfassung nicht vereinbar waren. Gleiches galt für die Übertragung von Zuständigkeiten in Bereichen, die bis dahin der „Dritten Säule“ der EU zuzurechnen waren: Grenzkontrollen sowie die Zusammenarbeit der Justiz im Zivil- und Strafrecht (Art. III-265ff. VVE). Auch wurde die Schaffung einer europäischen Staatsanwaltschaft (Art. III-274 VVE), einer gänzlich neuen Kompetenz, für mit der französischen Verfassung unvereinbar erklärt. Das galt nach Auffassung des Conseil constitutionnel schließlich auch für die im VVE vorgesehenen Verfahrensänderungen bei der Beschlussfassung auf Gemeinschaftsebene. Konsequenterweise hat er deshalb die Bestimmungen über den vorgesehenen obligatorischen oder fakultativen Übergang zur qualifizierten Mehrheit im Rat für Bereiche der ehemals Zweiten und Dritten Säule (Art. III-270ff., Art. III-300 VVE), die Entscheidungsbefugnis des Europaparlaments im Hinblick auf den Euro (Art. III-191 VVE) oder die verstärkte Zusammenarbeit (Art. III-419 VVE) und das gemeinsame Initiativrecht eines Viertels der Mitgliedstaaten im Bereich von Eurojust oder der Polizeikooperation (Art. III-264 VVE) als nicht im Einklang mit der Verfassung stehend deklariert.
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