V. Keine Möglichkeit für eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts.
[1]
Karpenstein Praxis des EG-Rechts Rn. 92–95.
3. Teil Der Anwendungs- oder Geltungsvorrang des Unionsrechts› A. Die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts
A. Die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts
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Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit[1]
I. Hinreichende Bestimmtheit der Norm und
II. inhaltliche Unbedingtheit der Norm und
III. kein nationaler Ermessensspielraum für die Anwendbarkeit der Unionsrechtsnorm und
IV. Auferlegung von Handlungs- und Unterlassungspflichten für die Mitgliedstaaten und
V. subjektiv unmittelbare Wirkung der Norm oder
VI. objektiv unmittelbare Wirkung der Norm.
Einen Anwendungsvorrangvor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten genießen die Normen des Unionsrechts, die unmittelbar anwendbar sind. Die Frage, ob eine Unionsrechtsnorm unmittelbar anwendbar ist, ist aber nur dann relevant, wenn diese für denselben Sachverhalt eine Rechtsfolge vorsieht, die der des nationalen Rechts widerspricht. In Art. 288 Abs. 2 AEUV n.F. ist nur die Verordnung ausdrücklich als unmittelbar anwendbar bezeichnet.
Hinweis
Begrifflich bedeuten unmittelbare Wirkungbzw. „Direktwirkung“dasselbe wie die „unmittelbare Anwendbarkeit“.
Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung im Laufe der Zeit die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit herausgearbeitet. Unmittelbar anwendbar können danach auch Bestimmungen des Unionsrechts sein, die den Einzelnen zwar nicht begünstigen, aber hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt formelle Anforderungen des Unionsrechts aufstellen (objektiv unmittelbare Wirkung).
Beispiel zur objektiv unmittelbaren Wirkung
Die aus Art. 2, 3 und 8 der UVP-Richtlinie[2] folgende Verpflichtung zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung haben die deutschen Genehmigungsbehörden unabhängig davon zu beachten, ob sich die von den jeweiligen Projekten Betroffenen auf diese Richtlinie berufen können oder nicht.[3]
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Eine unmittelbar anwendbare Norm vermittelt dem Einzelnen gegenüber einem Mitgliedstaat ein eigenes, subjektives Recht und wirkt wie ein innerstaatliches Gesetz. Unmittelbar anwendbares Unionsrecht geht dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten vor,[4] wenn die übrigen Voraussetzungen des Anwendungsvorrangs erfüllt sind.
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Die Europäische Union kann autonom von der Willensbildung in den Mitgliedstaaten in bestimmten von diesen Mitgliedstaaten übertragenen Bereichen für diese unmittelbar verbindliche Rechtsregeln erlassen. Allerdings hat die EU keine eigene Kompetenz zur Begründung neuer, noch nicht von den Mitgliedstaaten auf sie übertragenen Kompetenzen.[5] Aus Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV wird das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungabgeleitet. Hier wird deutlich, dass die Rechtsetzungsorgane der Union einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisungin den Gründungsverträgen bedürfen. Es sei aber besonders auf Art. 352 AEUV verwiesen, der für unvorhergesehene Fälle der Europäischen Union eine Kompetenzergänzungeinräumt.[6] Abweichend von der außer Kraft getretenen Regelung in Art. 308 EGV soll die Union jedoch gem. Art. 352 AEUV lediglich im Rahmen der in den „Verträgen“[7] festgelegten Politikbereiche und zur Verwirklichung eines der Ziele der Verträge tätig werden dürfen. In Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 3 des AEUV wird dem Rat die Kompetenz eingeräumt, je nach Entwicklung der Kriminalität einen Beschluss zu erlassen, in dem andere als die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 des AEUV bestimmten Kriminalitätsbereiche von ihm bestimmt werden können. Diese anderen Kriminalitätsbereiche müssen die Kriterien des Art. 83 Abs. 1 AEUV erfüllen.
JURIQ-Klausurtipp
Nur wenn wirklich keine andere Kompetenzgrundlage erkennbar ist, sollten Sie als ultima ratio die Kompetenzergänzung gem. Art. 352 AEUV prüfen.
[1]
EuGH Rs. 26/62, van Gend&Loos Slg 1963, 1/24 ff.; Arndt/Fischer/Fetzer Europarecht S. 93–94.
[2]
Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung.
[3]
EuGH Rs. C-431/92, Wärmekraftwerk Großkrotzenburg, Slg. 1995, I-218.
[4]
Thiele Europarecht S. 103 f.; Streinz Europarecht Rn. 451.
[5]
Kompetenz-Kompetenz.
[6]
Streinz Europarecht Rn. 135.
[7]
EUV und AEUV.
3. Teil Der Anwendungs- oder Geltungsvorrang des Unionsrechts› B. Der Anwendungsvorrang
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Das unmittelbar anwendbare Unionsrecht genießt nach der Rechtsprechung des EuGH und der des BVerfG Anwendungsvorrang vor jeglichem nationalen Recht, also auch vor dem nationalen Verfassungsrecht.[1] Alle Behörden einschließlich Gebietskörperschaften und sämtliche nationalen Gerichte müssen den Anwendungsvorrang beachten. Sie sind nicht befugt, Akte der Unionsorgane auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten der nationalen Verfassungen zu überprüfen. Denn folgt die nationale Normsetzung dem zwingenden Unionsrecht, dann kann deren Überprüfung nur nach den unionsrechtlich gewährleisteten Grundrechten erfolgen. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, unionsrechtswidrige mitgliedstaatliche Regelungen zu unterlassen. Der Anwendungsvorrang greift auch gegenüber bestandskräftigen Verwaltungsakten der Mitgliedstaaten durch, da dem Einzelnen sonst nach Auffassung des EuGH der durch das unmittelbar anwendbare Unionsrecht vermittelte Rechtsschutz vorenthalten würde.[2] Die Mitgliedstaaten haben durch die Gründungsverträge gem. Art. 4 Abs. 3 EUV die gegenseitige Verpflichtung übernommen, alle Maßnahmen zu unterlassen, die der Verwirklichung der Unionsziele entgegenstehen könnten. Die Funktionsfähigkeit der Union setzt die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung voraus.
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Soweit ein Widerspruch zwischen dem nationalen Recht und dem Unionsrecht nicht besteht, ist das nationale Recht von den nationalen Behörden und den Gerichten des jeweiligen Mitgliedstaates zu beachten.[3]
Hinweis
Bei einem Anwendungsvorrangdes Unionsrechts wird das nationale Recht nur soweit und nur solange von dem unmittelbar anwendbaren Unionsrecht verdrängt, wie es im konkreten Fall inhaltlich dem Unionsrecht widerspricht und eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich ist.
Der Anwendungsvorrang ist ausgeschlossen, wenn bei inhaltlichen Widersprüchen z.B. gem. Art. 114 Abs. 4 AEUV ausnahmsweise ein nationaler Alleingangin einzelnen Mitgliedstaaten zugelassen wurde.
3. Teil Der Anwendungs- oder Geltungsvorrang des Unionsrechts› B. Der Anwendungsvorrang› I. Die Begründung des BVerfG zum Anwendungsvorrang des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts
I. Die Begründung des BVerfG zum Anwendungsvorrang des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts
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Das BVerfG [4] leitete den Anwendungsvorrang aus den innerstaatlichen Zustimmungsgesetzen ab. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG enthalte einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl, aus dem sich kraft nationalem Verfassungsrechtsein Anwendungsvorrang des unmittelbar anwendbarenUnionsrechts vor dem bundesdeutschen Recht ergebe.
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