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In Deutschland enthielt erstmals das Preußische Allgemeine Landrechtvon 1794 ein Sonderrecht für Kaufleute.[9] Im 19. Jahrhundert wurde die Kodifikation des Handelsrechts insbesondere durch die wissenschaftlichen Vorarbeiten von Johann Heinrich Thöl , Levin Goldschmidt und Wilhelm Endemann befördert.[10] Im Gefolge der napoleonischen Befreiungskriege war Deutschland – neben dem Drang nach Verwirklichung der bürgerlichen Freiheiten – durch das Streben nach nationaler Einheit geprägt, wozu nicht zuletzt auch die rechtliche Einheit gehörte. Das galt, angesichts der vielfältigen Berührungspunkte des (Fern-)Handels mit ganz unterschiedlichen Regionen und Städten, namentlich für das Handelsrecht. Es überrascht daher nicht, dass bereits 1861 – und damit fast 40 Jahre vor dem Inkrafttreten des BGB – mit dem Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch (ADHGB)die erste Handelsrechtskodifikation in Kraft trat.[11] Diese galt zunächst in den meisten deutschen Staaten des damaligen Deutschen Bundes, ab 1869 dann auch im gesamten Norddeutschen Bund und ab 1871 schließlich im neu geschaffenen Deutschen Reich.
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Auch wenn das ADHGB durchaus eine weitgehend moderne und gelungene Kodifikation darstellte, beschloss man, das Handelsrecht im Zuge der Schaffung des BGB und zur Harmonisierung mit demselben neu zu schaffen. Konsequenz war das auch heute noch geltende Handelsgesetzbuch (HGB), das zeitgleich mit dem BGB am 1.1.1900 in Kraft trat. Auch wenn dem HGB revolutionäre Einschnitte bislang erspart geblieben sind, wurde das Gesetz mehrfach geändert.[12] Zu nennen sind insbesondere die Herausnahme des Aktienrechts samt Kodifikation in einem eigenständigen Gesetz im Jahre 1937[13], die Reformierung des Kaufmannsbegriffes durch das Handelsrechtsreformgesetz 1998[14] und das das Registerrecht modifizierende Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister (EHUG) vom 10.11.2006[15].
§ 1 Einleitung› E. Aufgaben des Handelsrechts
E. Aufgaben des Handelsrechts
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Das Handelsrecht soll den besonderen Bedürfnissendes Handelsverkehrs Rechnung tragen, die sich unter anderem daraus ergeben, dass Kaufleute im Vergleich zu „normalen“ Personen eine Vielzahl von Rechtsgeschäften abschließen und daher über ein größeres Maß an Geschäftserfahrung verfügen. Im Einzelnen:
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1.Kaufleute sind angesichts ihrer größeren Geschäftserfahrung weniger schutzwürdig als „Normalbürger“. Von ihnen kann daher ein gesteigertes Maß an Eigenverantwortlichkeitund Selbstständigkeiterwartet werden. Praktische Konsequenz dessen ist, dass das HGB eine Reihe von allgemein-zivilrechtlichen Schutzvorschriften für unanwendbar erklärt, wenn der Betroffene ein Kaufmann ist. Positiv formuliert erweitert das HGB also die Privatautonomie des Kaufmanns.[16]
So erklärt beispielsweise § 348 HGBdie Vorschrift des § 343 BGB, die eine richterliche Herabsetzung einer verwirkten Vertragsstrafe ermöglicht, für unanwendbar, wenn die Vertragsstrafe von einem Kaufmann versprochen wurde. Oder: Nach § 362 HGBist unter bestimmten Voraussetzungen – entgegen dem allgemeinen Grundsatz, dass Schweigen ein rechtliches Nullum ist – das Schweigen eines Kaufmanns als Annahme eines Antrags auf Geschäftsbesorgung zu verstehen.
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2.Darüber hinaus besteht im Handelsverkehr ein gesteigertes Bedürfnis nach Rechtssicherheit, Schnelligkeit und Einfachheit. Der Rechtsverkehr muss daher nicht nur in verstärktem Maße von der Notwendigkeit enthoben werden, Nachforschungen über die tatsächlichen Verhältnisse anzustrengen, sondern auch die Möglichkeit haben, rasch Klarheit über Umstände zu gewinnen, die für weitere Geschäftsentscheidungen wichtig sind.
Ein Beispielfür Ersteres sind die §§ 49, 50 I HGB, nach denen nicht nur der Umfang einer Prokura (als handelsrechtliche Sonderform einer rechtsgeschäftlichen Vollmachtserteilung) weitgehend gesetzlich geregelt ist (§ 49 HGB), sondern auch Abweichungen hiervon Dritten gegenüber unwirksam sind, § 50 I HGB. Ein Beispiel für Letzteres ist § 377 HGB. Danach trifft einen Kaufmann bei einem beiderseitigen Handelskauf die Pflicht zur unverzüglichen Untersuchung der gekauften Sache und (ggf.) unverzüglichen Mängelanzeige; tut er dies nicht, verliert er seine Gewährleistungsrechte. Damit wird u. a. erreicht, dass der Verkäufer schnell Rechtssicherheit darüber gewinnen kann, ob ihn der Käufer wegen (angeblicher) Mängel in Anspruch nimmt.
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3.Eng mit den unter 2. genannten Aspekten verzahnt ist das gesteigerte Bedürfnis des Handelsverkehrs an der Publizitätvon für Geschäftsentscheidungen wichtiger Tatsachen und einem Schutz des Vertrauensin publik gemachte Umstände.
Praktischer Ausfluss dessen sind z. B. die Vorschriften über das Firmenrecht(§§ 17 ff. HGB), das Registerrecht(§§ 8 ff. HGB) und insbesondere die den guten Glauben an die negative bzw. positive Publizität schützende Vorschrift des § 15 HGB.
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4.Schließlich besteht gerade im Bereich des Handelsrechts ein erhebliches praktisches Bedürfnis nach weiteren, im BGB nicht vorgesehenen Vertragstypenund flexiblen, das allgemeine Zivilrecht ergänzenden Regelungen.[17]
Beispielsweisehandelt es sich bei den transportrechtlichen Verträgen der §§ 407 ff. HGBzwar in aller Regel „nur“ um besondere Werkverträge, angesichts der speziellen Situation bei Speditions-, Fracht-, Lager- und Seefrachtverträgen ist aber eine den Spezifika dieser Situationen Rechnung tragende Kodifikation erforderlich.
§ 1 Einleitung› F. Konzeption und Inhalt dieses Lehrbuchs
F. Konzeption und Inhalt dieses Lehrbuchs
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Die folgenden Darstellungen orientieren sich im Wesentlichen an der numerischen Reihenfolge des HGB, beginnend mit dem Kaufmannsbegriff (§ 2) über das Handelsregister- (§ 3) und Firmenrecht (§ 4) zur Haftung bei Übertragung von Handelsgeschäften (§ 5). Es schließen sich Kapitel zu Besonderheiten des handelsrechtlichen Stellvertretungsrechts (§ 6), zu den Handelsgeschäften (§ 7), den kaufmännischen Absatz- und Geschäftsmittlern (§ 8) und schließlich dem Transportrecht (§ 9) an.
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Das vorliegende Lehrbuch verfolgt nicht den Anspruch, das Handelsrecht in seiner gesamten Breite (vertieft) darzustellen. Vielmehr hat es – ganz im Wortsinne eines Bandes der „ Schwerpunkte-Reihe“ – zum Ziel, diejenigen Bereiche aus dem Handelsrecht herauszugreifen und intensiv sowie klausur-didaktisch vertieft zu erläutern, die als klausur- und examensrelevant zu bezeichnen sind. Hingegen bleiben solche Gebiete aus dem HGB, die erfahrungsgemäß keinerlei oder nur sehr geringe Examensrelevanz aufweisen, entweder vollständig ausgeblendet (insbesondere die handelsrechtliche Rechnungslegung[18], das internationale Handelsrecht einschließlich dem Recht des grenzüberschreitenden Handelskaufs[19] sowie das Wertpapierrecht[20]) oder werden – wie insbesondere das Firmenrecht und das Recht der kaufmännischen Geschäftsmittler – nur überblicksartig dargestellt. An diesem Ansatz mag mancher „Traditionalist“ kritisieren, dass der eine oder andere lieb gewonnene und wichtig erscheinende Bereich ganz weggelassen oder, im Vergleich zum Lehrbuch im klassischen Sinne, (viel) zu kurz gekommen ist. Ganz von der Hand zu weisen ist dieser Vorwurf sicherlich nicht. Allein: Angesichts der immer größer werdenden Stofffülle und der daraus resultierenden steigenden Anforderungen an die Studierenden der Rechtswissenschaft – man denke nur an die exorbitant gestiegene Bedeutung des Europarechts und der Judikatur des EuGH – tut eine Konzentration des den Studierenden zugemuteten Stoffes dringend Not. Das gilt umso mehr, als damit die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Schwerpunktsetzung in der Klausur- und Examensvorbereitung deutlich erhöht wird. Im Gegenzug werden dafür diejenigen Materien, die für Klausur und Examen von Bedeutung sind, in aller gebotenen Ausführlichkeit und mit entsprechenden Rechtsprechungs- und Literaturnachweisen erörtert. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Querverstrebungen zum allgemeinen Zivilrecht gelegt, um so dem (künftigen) Klausurenschreiber und Examenskandidaten nicht nur die Verschränkung beider Rechtsgebiete vor Augen zur führen, sondern auch, um ihm zu verdeutlichen, an welchen Stellen in der juristischen Fallbearbeitung das Handelsrecht relevant werden kann.
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