bb) Unzulässigkeit der Bereinigung von Streitigkeiten
143
Es bleibt damit zu fragen, ob einem Sozialplan eventuell auch eine „Bereinigungsfunktion“zukommt, die den Klageverzicht als Anspruchsvoraussetzung gestatten würde. Ein Sozialplan soll nach der gesetzlichen Konzeption die wirtschaftlichen Nachteile der Arbeitnehmer aus einer rechtmäßigdurchgeführten Betriebsänderung ausgleichen oder mildern. Rechtswidrige Maßnahmen braucht der Arbeitnehmer dagegen ohnehin nicht hinzunehmen; gegen sie kann er sich gerichtlich zur Wehr setzen und ihre nachteiligen Folgen abwenden. Nachteile einer rechtswidrigen Kündigung gehören somit nicht zum Sozialplan. Eine „Bereinigungsfunktion“zur Herbeiführung von Planungssicherheit kommt einem Sozialplan daher nicht zu.[13] Seine Funktion besteht nicht darin, allein die individualrechtlichen Risiken des Arbeitgebers bei der Durchführung von Betriebsänderungen zu reduzieren oder gar zu beseitigen.[14]
144
Vor diesem Hintergrund ist es unzulässig, im Rahmen eines Sozialplans das Interesse des Arbeitgebers an Planungs- und Rechtssicherheit als sachlichen Grund für die Ungleichbehandlungen von Arbeitnehmern heranzuziehen.[15]
145
Hinweis zur Bewertung:
Ein anderes Ergebnis ist vertretbar, wenn darauf abgestellt wird, dass durch bereinigende Maßnahmen unter gewissen Umständen die Folgen einer Betriebsänderung für die Belegschaft insgesamt abgemildert werden können (vgl. außerdem Rn. 174 f.).
cc) Zulässigkeit mit Blick auf § 1a KSchG
146
Möglicherweise ist die Gewährung einer Sozialplanabfindung an Arbeitnehmer, die nicht Klage erheben, aber mit Blick auf die am 1.1.2004 in Kraft getretene Vorschrift des § 1a I 1 KSchGsachlich gerechtfertigt. Die Regelung belegt, dass nach den Wertungen des Gesetzgebers die Verknüpfung eines individuellen Abfindungsanspruchs mit der Nichtwahrnehmung des Klagerechts nach § 4 S. 1 KSchG von der Rechtsordnung gebilligt wird. Es ist indes fraglich, ob die in dieser Vorschrift getroffene Wertung auch Auswirkungen auf die Gestaltungsmöglichkeiten in Sozialplänen hat.[16]
147
Durch § 1a KSchG sollte eine „einfach zu handhabende, moderne und unbürokratische Alternative zum Kündigungsschutzprozess“ geschaffen werden.[17] Der Abfindungsanspruch, den § 1a KSchG vorsieht, entspricht seinem Charakter nach einer zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber individualvertraglichfür die Hinnahme einer Kündigung vereinbarten Abfindung.
148
Hinweis zur Bewertung:
Die Kenntnis der Gesetzesbegründung wird freilich nicht erwartet, wohl aber sollten die Bearbeiter den Sinn und Zweck dieser Norm herausarbeiten und mit ihm argumentieren.
149
Anders als auf der Individualebene[18] steht eine Sozialplanabfindung aber nicht im Beliebendes Arbeitgebers. Vielmehr begründet die Betriebsänderung einen Anspruch des Betriebsrats auf Abschluss eines Sozialplans, der notfalls vor der Einigungsstelle erzwungen werden kann.[19] Ferner geht ein Sozialplan, der für den Verlust der Arbeitsplätze Abfindungen vorsieht, von der Wirksamkeitder Kündigungen aus. Denn andernfalls fehlte es bereits an einem wirtschaftlichen Verlust, der im Rahmen des Sozialplans auszugleichen oder abzumildern wäre. Dagegen wird eine individualrechtliche Abfindung regelmäßig auch im Hinblick auf das Risiko des Arbeitgebers vereinbart, dass sich die Kündigung in einem Kündigungsschutzprozess als unwirksam erweisen könnte. Dieses Risiko soll durch die an die Hinnahme der Kündigung oder die einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses geknüpfte Abfindung beseitigt werden. Eine Sozialplanabfindung hat damit eine gänzlich andere Funktionals die Abfindung nach § 1a KSchG, so dass die dort getroffene Wertung des Gesetzgebers keinerlei Auswirkungen auf den zulässigen Inhalt eines Sozialplans haben kann.
150
Das Interesse des Arbeitgebers an Planungs- und Rechtssicherheit ist daher auch mit Blick auf § 1a KSchG kein sachlicher Grund zur Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen im Rahmen eines Sozialplans . Die Einschränkung auf nicht klagende Arbeitnehmer verstößt somit gegen das betriebsverfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot aus § 75 I BetrVG und ist daher nach § 134 BGB unwirksam.[20]
151
Hinweis zur Klausurtechnik:
Mit entsprechender Argumentation ist es freilich auch möglich, zum gegenteiligen Ergebnis zu gelangen. Da sich in diesem Fall keine Unterschiede zur Prüfung eines Anspruchs aus § 5 BV-O ergeben, ist es klausurtaktisch jedoch ratsam, sich der Meinung des BAG anzuschließen.
3. Verstoß gegen § 612a BGB
152
Schließlich kommt in Betracht, dass der Ausschluss einer Sozialplanabfindung für den Fall der Erhebung einer Kündigungsschutzklage gegen das Maßregelungsverbot aus § 612a BGBverstößt.[21]
153
Hinweis zur Klausurtechnik:
Ein Hilfsgutachten ist auch an dieser Stelle nicht erforderlich, da der Verstoß gegen § 612a BGB logisch unabhängig von einem Verstoß gegen § 75 I BetrVG ist, beide Unwirksamkeitsgründe also nebeneinander vorliegen (s. ausführlich in Klausur 1, Rn. 94).
154
Auch die Betriebsparteien haben das Maßregelungsverbot des § 612a BGB zu beachten,[22] wobei dahinstehen kann, ob § 612a BGB unmittelbar oder mittelbar über § 75 I BetrVG Anwendung findet.
155
Zunächst muss demnach eine Benachteiligungvorliegen. Die Gewährung einer zusätzlichen Prämie für nicht klagende Arbeitnehmer scheint auf den ersten Blick nicht unter diesen Begriff zu fallen. Eine Benachteiligung setzt allerdings nicht notwendig voraus, dass sich die Situation des Arbeitnehmers gegenüber dem bisherigen Zustand verschlechtert. Das Maßregelungsverbot kann nach seinem Sinn und Zweck vielmehr auch verletzt sein, wenn dem Arbeitnehmer Vorteile vorenthaltenwerden, die der Arbeitgeber anderen Arbeitnehmern gewährt, weil sie ihre Rechte nicht ausgeübt haben.[23] Eine Benachteiligung i.S.d. § 612a BGB liegt mithin vor.
c) Verhältnis zwischen Rechtsausübung und Nachteil
156
Fraglich ist sodann, ob die Einschränkung des Prämienanspruchs eine Benachteiligung darstellt, die deshalb erfolgt, „ weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt.“ Der Wortlaut von § 612a BGB deutet darauf hin, dass möglicherweise nur solche Vereinbarungen erfasst werden, die der Rechtsausübung zeitlich nachfolgen.[24]
157
Nach überwiegender Auffassung soll die zeitliche Reihenfolge jedoch aus teleologischenGründen unerheblichsein. § 612a BGB soll demnach auch dann anwendbar sein, wenn die benachteiligende Maßnahme oder Vereinbarung zeitlich vor der Rechtsausübung liegt.[25] Das sei mit dem Wortlaut insofern vereinbar, als dieser nur Kausalität zwischen Ausübung und Nachteil verlange („weil [. . .] ausübt“ und nicht „ausgeübt hat“).
158
Daraus folgt allerdings eine nicht unerhebliche Einschränkung der Vertragsfreiheit. Es sind schließlich durchaus Situationen vorstellbar, in denen ein Arbeitnehmer auf ihm zustehende Rechte gegen Zahlung einer Abfindung verzichten möchte (vgl. etwa § 1a KSchG). Vereinzelt wird die Anwendbarkeit von § 612a BGB daher auf Maßnahmen und Vereinbarungen begrenzt, die unverhältnismäßig und sozial inadäquatsind.[26] Teilweise wird die Anwendbarkeit von § 612a BGB aber auch gänzlich abgelehnt, wenn es um eine Vereinbarung geht, die der Rechtsausübung vorangegangenist; solch eine Vereinbarung könne keine Benachteiligung i.S.d. § 612a BGB darstellen.[27]
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