14
In zahlreichen Entscheidungen lässt das Bundesverfassungsgericht für Art. 103 Abs. 2 GG ausdrücklich nicht nur Parlamentsgesetze, sondern auch Rechtsverordnungenals Gesetze im materiellen Sinne genügen[52]. Von förmlichen Gesetzen ist eben nur in Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG (selbst vor allem Verfahrensgarantie zum Schutz vor willkürlicher Verhaftung, aber auch Garantie dafür, dass die Strafdrohung als solche im formellen Gesetz enthalten sein muss)[53] die Rede. Die den Tatbestand mitprägenden Rechtsverordnungen müssen allerdings im Rahmen einer dem Art. 80 Abs. 1 GG entsprechenden Ermächtigung ergangen sein. Die Verfassungsnorm, nach der Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Verordnungsermächtigung vom parlamentarischen Gesetzgeber festgelegt sein müssen, regelt ganz allgemein die Grenzen administrativer Gesetzgebung. Sie ist die entscheidende Vorschrift, die der Delegationsbefugnis des parlamentarischen Gesetzgebers nach 1949 erstmals Grenzen gesetzt hat. Für das Strafrecht folgt daraus, dass die Festlegung von Art und Maß der Sanktion dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten bleibt. Auf Tatbestandsebene muss der Bundestag die Grundentscheidung[54] darüber treffen, welche Rechtsgüter geschützt und welche Verhaltens- und Schuldformen geahndet werden sollen[55]. Dem Verordnungsgeber dürfen lediglich „Spezifizierungen“[56] (wobei die Anforderungen dafür bisher in der Verfassungswirklichkeit weniger hoch sind, als es die Formulierung vielleicht nahelegt) des Tatbestandes überlassen bleiben. Nur wenn diesen Anforderungen genügt wird, ist die Rechtsverordnung wirksam, und nur mit einer wirksamen Ausfüllungsnorm kann ein dem Art. 103 Abs. 2 GG entsprechender Gesamttatbestand gebildet werden[57]. Wenn jüngst § 10 Abs. 1 und 3 RiFlEtikettG für verfassungswidrig erklärt wurde, weil die Strafbarkeit im parlamentarischen Gesetz nur grob als Zuwiderhandlung gegen EG- bzw. EU-Verordnungen im generellen Regelungsbereich des Gesetzes skizziert wurde, die durch Rechtsverordnung näher zu präzisieren waren[58], ist dies ohne Frage zu begrüßen.
15
Für straf- und bußgeldbewehrte Satzungen(vgl. etwa Art. 24 Abs. 2 S. 2 GO-Bayern oder § 209 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII) gelten diese Grundsätze mit gewissen Einschränkungen. Das Selbstverwaltungsprinzip ist nämlich an sich Gegenentwurf zur hierarchisch exekutiven Rechtssetzung im Verordnungswege. Grenzen der Verleihung autonomer Rechtssetzungsgewalt ergeben sich hier jedoch aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip gem. Art. 20 Abs. 3 GG[59]. Zwar erfolgt die selbstverantwortliche Regelung eigener Angelegenheiten durch parlamentsähnliche Organe; es besteht jedoch die Gefahr der Benachteiligung von Außenseitern. Ferner können die Belange des Volkes als Gesamtheit durchaus vom Gruppeninteresse abweichen.
16
b) Was die Eindeutigkeit der Verknüpfung anbelangt, wird bei Rechtsverordnungen und Satzungen vielfach der Gebrauch von Rückverweisungsklauselnals vorzugswürdig angesehen, da so im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG eine bessere Überschaubarkeit von Blankettgesetzen für den Bürger gewährleistet sei[60]. Prominentestes Beispiel ist der Bußgeldtatbestand des § 24 Abs. 1 S. 1 StVG, aber auch Strafvorschriften wie §§ 17 Abs. 1, 19 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 AWG, § 95 Abs. 1 Nr. 2 AMG und § 29 Abs. 1 Nr. 14 BtMG verwenden diese Technik. Wenn man dem Verordnungsgeber aufgibt, seinen Willen zur Blankettausfüllung ausdrücklich erkennen zu lassen, trägt dies sicherlich zur Rechtsklarheit bei. Faktisch geht mit dem allerdings ein nicht unerheblicher Kompetenzzuwachs beim Verordnungsgeber einher. Der Nebeneffekt ist teilweise sogar ausdrücklich erwünscht, da so nicht hinreichend bestimmte, nicht sanktionswürdige oder schon anderweitig abgesicherte Ver- bzw. Gebote leichter von einer Sanktionierung ausgenommen werden könnten[61]. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sollte aber eigentlich bereits vom Parlament beachtet werden, auch die Vermeidung von Wertungswidersprüchen ist ureigene Aufgabe der Legislative. Im Hinblick auf Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG bestand insoweit allerdings bisher nur vereinzelt Problembewusstsein[62]. Je mehr Korrekturmöglichkeiten dem Verordnungsgeber überantwortet werden, desto weniger wird der parlamentarische Gesetzgeber aber Anstrengungen entfalten, die Grundentscheidung darüber, welche Verhaltens- und Schuldformen sanktionswürdig und -bedürftig sind, so weit wie möglich selbst zu treffen. Zweifel an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Rückverweisungsklauseln müssen jedenfalls dort aufkommen, wo der Exekutive extrem weite Gestaltungsspielräume eröffnet und diese auch genutzt werden, etwa bei § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 14 BtMG. Dort, wo der Verordnungsgeber sogar die Wahl zwischen Bußgeld und mehrjähriger Freiheitsstrafe hat (theoretisch denkbar bei § 17 Abs. 1 AWG und § 19 Abs. 3 Nr. 1 lit. a AWG)[63], werden die Grenzen einer zulässigen Delegation i.S.d. Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG mit Sicherheit überschritten (zum verfassungswidrigen § 10 Abs. 1, 3 RiFlEtikettG a.F. siehe bereits oben Rn. 14a.E.).
4. Besonderheiten beim Blankettverweis auf Europarecht
17
a) Nationale Blanketttatbestände können auch auf Europarecht (zum Europäischen Strafrecht allgemein vgl. § 131) verweisen[64]. Geeignete Ausfüllungsobjekte sind neben dem Primärrecht(z.B. § 81 Abs. 1 GWB mit Verweisung auf Art. 101, 102 AEUV), vor allem EU-Verordnungen, die originär eine nichtstrafrechtliche Materie betreffen. Verordnungen sind gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Betroffen sind z.B. das Lebensmittelstrafrecht (z.B. § 58 LFGB i.V.m. der Lebensmittel-Basisverordnung (EG) Nr. 178/2002), das Weinstrafrecht (§§ 48 Abs. 1 Nr. 3 und 4, 49 Nr. 6 und 7, 50 Abs. 2 Nr. 12 i.V.m. § 51 WeinG i.V.m. den in den §§ 52, 53 WeinV genannten europäischen Verordnungen), das Steuer- und Zollstrafrecht (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO i.V.m. Art. 139 UZK (EU) 952/2013), das Umwelt- (§ 326 Abs. 2 StGB i.V.m. Abfallverbringungsverordnung (EG) Nr. 1013/2006) sowie das Außenwirtschaftsstrafrecht (§§ 17 Abs. 1 Nr. 2, 18 AWG).
18
Das Gebrauchmachen von der Blanketttechnikist hier sogar eine europarechtliche Notwendigkeit. Zum einen fehlt der Europäischen Union die Kompetenz, originäres Strafrecht zu setzen[65]. Aber auch der nationale Strafgesetzgeber darf nicht in voller Breite selbst tätig werden, vor allem nicht dort, wo der europäische Gesetzgeber schon unmittelbar gültige Verhaltensnormen aufgestellt hat. Auch bei einer wortgetreuen Wiederholung einer Verordnung bestünde, da der europäische Ursprung des Ver- oder Gebots verschleiert würde[66], die Gefahr einer europaweit unterschiedlichen Interpretation. Die europäische Verordnung darf nicht in einen nationalen Kontext und damit in eine scheinbare Abhängigkeit vom nationalen Gesetzgeber gebracht werden[67].
19
b) Dennoch entsteht ein gemischt nationalstaatlich-europäischer Gesamtstraftatbestand, der insgesamt den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotsgem. Art. 103 Abs. 2 GG genügen muss, unabhängig davon, dass mit Art. 49 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh zusätzlich ein vergleichbarer europarechtlicher Maßstab zur Verfügung stünde. Bei der Beurteilung von Inkrafttreten und Wirksamkeit der Ausfüllungsnormen sowie ihrer Auslegung gelten die europarechtlichen Grundsätze zwar unmittelbar[68]; die Vorschriften bleiben schließlich trotz Hineinlesens in den deutschen Tatbestand europäisches Recht. Der Vorwurf der Nichtbeachtung des deutschen Bestimmtheitsgebots lässt sich jedoch immer gegen den nationalen Gesetzgeber richten, selbst wenn die Bestimmtheitsdefizite (auch) in der Verordnung begründet sind. Vorhandene europäische Verhaltensnormen werden schließlich erst im Nachhinein vom nationalen Gesetzgeber sanktionsbewehrt. Letzterer hat es also in der Hand zu prüfen, ob die in Bezug genommene Verordnung ihre Funktion als Ausfüllungsobjekt ausreichend erfüllt oder ob weitere Präzisierungen im nationalen Strafblankett erforderlich sind, etwa durch nähere Beschreibung des strafbaren Verhaltens „entgegen“ einer bestimmten europäischen Norm (vgl. etwa §§ 23 ff. FPersV). Genügt der Gesamttatbestand Art. 103 Abs. 2 GG nicht, schließt dies eine Sanktionierung aus, die außerstrafrechtliche Geltung der europäischen Ausfüllungsnorm wird dadurch selbstverständlich nicht in Frage gestellt.
Читать дальше