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Unabhängig von der Suche nach einer möglichst treffenden Bezeichnung der §§ 3 ff. StGB bleibt der Bestimmung des räumlichen Geltungsbereichs einer nationalen Strafrechtsordnung eine wachsende Bedeutungzu bescheinigen. Diese Entwicklung ist mehreren Umständen geschuldet. Zum einen ist auf die gestiegene Mobilität der Menschen hinzuweisen, die häufig mit einer größeren Kenntnis an Fremdsprachen und einem wachsenden Interesse an anderen Staaten und Kulturen einhergeht. War früher der Urlaub außerhalb des eigenen Staates noch eine Besonderheit, gehören heutzutage beruflich wie privat bedingte Aufenthalte im Ausland mehr und mehr zum Alltag. Zum anderen ermöglichen und erleichtern es die gewaltigen Fortschritte der Informations- und Kommunikationstechnologie, Kontakte rund um den Globus zu knüpfen und zu vertiefen. Kostete einst der Telefonanruf bei den Verwandten im Ausland ein kleines Vermögen und dauerte die Beförderung eines Briefs ins Ausland häufig mehrere Wochen, werden inzwischen in Sekundenschnelle E-Mails an das andere Ende der Welt übermittelt und sind via Internet Webseiten aus sämtlichen Staaten abrufbar.
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Solche Aufenthalte im und Kontakte ins Ausland werden freilich nicht stets zu rechtmäßigen Handlungen genutzt, sondern können auch Anlass oder Gelegenheit zu kriminellen Verhaltensweisen sein. Bei solchen Taten mit Auslandsbezugstellt sich zunehmend die Frage nach dem räumlichen Geltungsbereich nationaler Strafrechtsordnungen. Dies gilt zum einen für die Konstellation, dass die Begehungsorte einer Tat in verschiedenen Staaten liegen. Insoweit lässt sich auf die genannten gestiegenen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten verweisen, die sowohl eine grenzüberschreitende Beteiligung an einer Straftat ermöglichen oder erleichtern als auch bei einem allein agierenden Täter eine Multiplikation der Begehungsorte nach sich ziehen können (z.B. bei dem grundsätzlich weltweit möglichen Abruf der Inhalte einer Webseite). Zum anderen kann ebenso die gewonnene Mobilität genutzt werden, um sich bewusst dem Anwendungsbereich einer Strafrechtsordnung zu entziehen. Beispielsweise ist es denkbar, einen im Inland unter Strafe gestellten Schwangerschaftsabbruch in einem Nachbarstaat mit (insoweit) liberaleren Regelungen durchführen zu lassen. Auch bei solchen modernen Formen des „Straftatentourismus“ bleibt – und zwar für sämtliche Beteiligte an der Tat – zu erörtern, ob sie einen Rückgriff auf das umgangene nationale Strafrecht ausschließen oder ob ggf. andere Anknüpfungspunkte für dessen Anwendung verbleiben.
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Wie bei der Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität vorgegangen werden soll, ist nicht zuletzt eine kriminalpolitische Frage. Ob als Antwort auf die hiermit verbundenen Herausforderungen ein konsentiertes Vorgehen mehrerer Staaten erstrebt oder ein nationaler Alleingang bevorzugt wird, hängt nicht zuletzt von der Effektivität und der Beschwerlichkeit der einzelnen Wege ab. Eine internationale Zusammenarbeit dürfte sich häufig als schwierig erweisen, bestehen doch nicht selten erhebliche Unterschiede in der rechtlichen Bewertung einzelner Verhaltensweisen. Dies betrifft vor allem ethisch umstrittene Gebiete wie z.B. die medizinische Forschung oder wegen der unterschiedlichen Reichweite der Meinungsäußerungsfreiheit auch die Sanktionierung von (z.B. extremistischen, pornographischen, gewaltverherrlichenden) Äußerungen. Sofern aus diesen oder anderen Gründen ein nationaler Alleingang als kriminalpolitisch vorzugswürdiger Weg angesehen wird, kann der jeweilige Gesetzgeber indessen auch nicht völlig nach Belieben verfahren. Vielmehr bleiben völkerrechtliche Grundsätze zu beachten, soweit andere Staaten als selbstständige und zu respektierende Souveränitäten betroffen sind.
7. Abschnitt: Geltungsbereich des Strafrechts› § 31 Räumlicher Geltungsbereich› B. Völkerrechtliche Grundfragen
B. Völkerrechtliche Grundfragen
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Zwar handelt es sich bei dem Strafanwendungsrecht um nationales Recht ( Rn. 5). Es darf aber nicht außer Blick geraten, dass sich der dadurch festgelegte räumliche Geltungsbereich der eigenen Strafrechtsordnung (angesichts der gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen: zunehmend) auch auf Sachverhalte erstrecken kann, die ebenso die Strafgewalt anderer souveräner Staaten betreffen. Bei der Setzung und Interpretation strafanwendungsrechtlicher Normen darf daher nicht eine rein nationale Perspektive angelegt werden, sondern sind auch völkerrechtliche Prinzipienhinreichend zu beachten.
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Grundlegend ist zunächst das sog. Territorialitätsprinzip( Rn. 17 ff.) mit seiner Anknüpfung an das Staatsgebiet zur Bestimmung wie Beschränkung der nationalen Strafgewalt. Sofern ein Staat seine Strafgewalt darüber hinaus auf fremdes Territorium ausweiten will, indem auch dort begangene Taten dem eigenen Recht unterstellt werden, setzt das sog. Nichteinmischungsprinzip, das auf der souveränen Gleichheit sämtlicher Staaten beruht, Grenzen. Schließlich bedeutete eine solche Ausdehnung, sich in die inneren Angelegenheiten des anderen Staates einzumischen und ihm die ausschließliche Zuständigkeit zur Strafverfolgung auf seinem Hoheitsgebiet abzusprechen.[19] Dieses Interventionsverbot verkörpert eine allgemeine Regel des Völkerrechts, die gemäß Art. 25 GG zwar Bestandteil des Bundesrechts ist, aber gegenüber den einfachen Gesetzen einen Anwendungsvorrang genießt.[20]
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Um die nationale Strafgewalt auch für Auslandstaten zu beanspruchen, bedarf es stets eines sog. „ genuine link“, eines völkerrechtlich zulässigen „sinnvollen“[21] oder „legitimierenden Anknüpfungspunkts“.[22] Kein Staat darf seine nationale Strafgewalt somit nach Belieben ausdehnen.[23] So hat schon die wegweisende Lotus-Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs vom 7. September 1927 hervorgehoben, dass es einem Staat zwar nicht grundsätzlich verwehrt ist, auch „Personen, Vermögen und Handlungen ausserhalb ihres Gebietes durch ihre Gesetze zu erfassen und der Gerichtsbarkeit ihrer Gerichte zu unterwerfen“.[24] Allerdings dürfe ein Staat nicht die Grenzen überschreiten, die das internationale Recht seiner Zuständigkeit ziehe.[25]
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Als „genuine link“ kommen verschiedene Kriterien in Betracht. So wird unter Anknüpfung an den Begehungsort der Tat bei Straftaten auf Schiffen und Luftfahrzeugen unter eigener Flagge das Flaggenprinzip( Rn. 20) bemüht, um einen inländischen Tatort auch außerhalb des eigenen Staatsgebiets zu fingieren. Außerdem kann die Zugehörigkeit des Täters bzw. Opfers zum eigenen Staatsvolk herangezogen werden; wird auf die Staatsangehörigkeit des Täters verwiesen, um nationale Strafgewalt zu beanspruchen, ist von dem aktiven Personalitätsprinzipdie Rede ( Rn. 22), bei der Staatsangehörigkeit des Opfers vom passiven Personalitätsprinzipoder auch Individualschutzprinzip ( Rn. 24). Des Weiteren kann nach dem Realprinzipoder auch Staatsschutzprinzip ( Rn. 26 f.) der Schutz des Staates bzw. inländischer Rechtsgüter einen legitimierenden Anknüpfungspunkt darstellen. Ist ein Rechtsgut weltweit anerkannt, so dass für dessen Schutz kein Staat allein, sondern nur die Staatengemeinschaft insgesamt zuständig ist, streitet das sog. Weltrechtsprinzipfür die Ausübung originärer Strafgewalt ( Rn. 28 f.).
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Verzichtet werden kann auf einen „genuine link“, wenn ein Staat seine Gerichtsbarkeit im Einverständnis mit einem anderen Staat ausübt und sich somit gerade nicht unzulässig in dessen Angelegenheiten einmischt.[26] Das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflegegestattet in diesem Fall, subsidiär eine von einem anderen Staat abgeleitete Strafgewalt wahrzunehmen ( Rn. 30 f.).
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