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Auch die Berufung auf die Formnichtigkeit (§ 125) kann rechtsmissbräuchlichsein.[102] Die Hürden sind hoch, andernfalls würden die Formvorschriften und ihre Zwecke ad absurdum geführt. Die Berufung auf Formnichtigkeit kann aber in zwei Fallgruppen gegen § 242 verstoßen: Bei Existenzgefährdungeiner Partei und in Fällen besonders schwerer Treuepflichtverletzungen. Allerdings kommt die Anwendung von § 242 nur in Ausnahmefällen in Betracht, auch in der Rechtsprechung wird sie in aller Regel abgelehnt. Es genügt nicht, dass die Nichtigkeit eine Seite „hart trifft“.[103] Vielmehr muss die Nichtigkeitsfolge „schlechthin untragbar“ für eine Partei sein.[104] Der BGH hat diese strengen Voraussetzungen etwa in einem Fall zur Anwendung gebracht, in dem ein 63-jähriger einfacher Handwerker ohne juristische Vorbildung unter Aufwendung seiner gesamten Ersparnisse ein Eigenheim erwerben wollte, um dort seinen Lebensabend verbringen zu können.[105] Er hatte seine frühere Wohnung aufgegeben und war bereits eingezogen, obwohl der Vertrag nicht notariell beurkundet und daher formnichtig gem. § 125 war. Nach Einschätzung des BGH wäre es einem Existenzverlust des Handwerkers gleichgekommen, wenn er das Eigenheim aufgeben und sich einen neuen Alterssitz hätte suchen müssen.[106]
Auch in Fall 2lässt sich begründen, dass § 242 der Berufung auf die Formnichtigkeit entgegensteht: Gegenüber dem früheren Angestellten besteht eine Ungleichgewichtslage. Auch hat U gegenüber A ausdrücklich behauptet, einen privatschriftlichen Vertrag als gleichwertig zu betrachten. Darauf vertraute A. Dass sich U später entgegen seiner ausdrücklichen Behauptung auf die Formnichtigkeit beruft, ist rechtsmissbräuchlich (so auch BGH NJW 1968, 39). Auch die Gegenauffassung ist gut vertretbar: Formvorschriften sind strenges Recht, allzu großzügige Einschränkungen über § 242 gefährden die Rechtssicherheit. Dass A als Angestellter sich U gegenüber nicht recht traute, auf notarielle Beurkundung zu bestehen, ist verständlich. Der Mangel an Mut geht aber zu seinen Lasten, zumal er von der notariellen Beurkundungspflicht wusste.
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Auch die Verwirkung von Rechtenlässt sich der unzulässigen Rechtsausübung zuordnen. Sie betrifft die illoyale Verspätung der Rechtsausübung. Als Ausfluss von Treu und Glauben ist die Verwirkung grundsätzlich neben dem Verjährungsrecht anwendbar. Praktisch ist die Verwirkung umso weniger wichtig, je kürzer die Verjährungsfrist ist, weil sich bei einem (frühen) Eintritt der Verjährung ein Rückgriff auf die Verwirkung oft erübrigt.[107] Grundsätzlich kann die Verwirkung alle subjektiven Rechte erfassen,[108] auch etwa Widerrufsrechte.[109] Die Verwirkung steht der Geltendmachung von Ansprüchen entgegen, wenn der Vertragspartner bereits darauf vertrauendurfte, dass keine Forderungen mehr geltend gemacht werden, und er sich hierauf auch bereits eingerichtet hat. Das setzt erstens voraus, dass der Gläubiger ein Recht über längere Zeit hinweg nicht geltend gemacht hat, obwohl er es hätte geltend machen können (Zeitmoment). Die Länge des Zeitraums hängt vom Einzelfall ab. Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren kann nach der Rechtsprechung des BGH nur unter ganz besonderen Umständen weiter durch Verwirkung abgekürzt werden,[110] denn sie lässt dem Gläubiger ohnehin wenig Zeit für die Rechtsdurchsetzung. Zweitens sind besondere Umständeerforderlich, wegen derer der Schuldner darauf vertrauen durfte, dass der Gläubiger die Forderung nicht mehr geltend machen wird (Umstandsmoment).[111] Der Zeitablauf allein genügt also nicht. Das Umstandsmoment der Verwirkung muss stets aus den Besonderheiten des Einzelfalls heraus unter Abwägung der betroffenen Interessen begründet werden. Dabei können auch Vertrauensdispositionen eine Rolle spielen.[112]
In Fall 3verweigert V die Unterhaltsnachzahlungen mit der Begründung, dem Anspruch stehe die mittlerweile verstrichene Zeit entgegen. Dass die Verjährungsfrist von drei Jahren aus § 195 hier noch nicht abgelaufen ist, lässt sich mit Blick auf die Daten unschwer feststellen. Daher kann V sich höchstens auf eine Verwirkung als Unterfall von § 242 stützen. Zunächst mag man sich fragen, ob eine Verwirkung ausgeschlossen ist, weil § 207 Abs. 1 S. 2 Nr 2 für Ansprüche von Kindern gegen ihre Eltern eine Verjährungshemmung ausspricht, um die Anspruchsberechtigten vor einem zeitlich bedingten Verlust von Ansprüchen bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres zu schützen. Einen generellen Ausschluss der Verwirkung aus diesem Grund lehnte der BGH ab, allerdings müsse die Verwirkung im Einzelfall gut begründet sein.[113] Bei der Prüfung der Verwirkung bejahten die Richter das Zeitmoment mit dem Argument, der Unterhalt sei bewusst an die aktuellen Lebensverhältnisse gekoppelt, weshalb er sowieso nur ausnahmsweise rückwirkend bewilligt werden könne. Außerdem sei der Gläubiger (S) schon im Eigeninteresse dazu angehalten gewesen, zügig auf die Berechnung der Unterhaltssumme durch V zu reagieren.[114] Allerdings fehlte es nach Ansicht des BGH am Umstandsmoment: V durfte nicht allein aufgrund der fehlenden Reaktion von S davon ausgehen, dass dieser die Summe hingenommen oder gleich ganz auf Unterhalt verzichtet habe. Ein berechtigtes Vertrauen darauf, dass S auch in Zukunft von einer weitergehenden Geltendmachung absehen würde, sei nicht gegeben.[115] Daher ist keine Verwirkung eingetreten.
c) Korrektur rechtlicher Befugnisse
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Auch flexible Korrekturen rechtlicher Befugnisse werden durch § 242 möglich. Die wichtigsten Anwendungsbereiche dieser Fallgruppe – die Lehre von der Geschäftsgrundlage und die Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund – sind in § 313 bzw § 314kodifiziert. Deutlich wird die von § 242 ermöglichte Flexibilität heute noch etwa im schadensrechtlichen Institut der Vorteilsausgleichung.[116]
Teil I Grundlagen› § 1 Ziele und Prinzipien des Schuldrechts› VII. Trennungs- und Abstraktionsprinzip
VII. Trennungs- und Abstraktionsprinzip
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Trennungsprinzip und Abstraktionsprinzip kennzeichnen das deutsche Privatrecht und sind auch im Schuldrecht bedeutsam.[117] Als Trennungsprinzipbezeichnet man die Unterscheidung zwischen dem schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäft (etwa einem Kaufvertrag i.S.v. § 433) und dem Verfügungsgeschäft (etwa der Übereignung gem. § 929). Das Recht der Schuldverhältnisse betrifft die erste Ebene, nämlich die Verpflichtungsgeschäfte. Eine Ausnahme bildet die Abtretung (§§ 398 f).[118] Schuldverhältnisse begründen Rechte und Pflichten. Der Kaufvertrag begründet das Recht des Käufers, vom Verkäufer Übergabe und Übereignung zu verlangen. Der Käufer wird durch Abschluss des Kaufvertrags aber noch nicht Eigentümer. Dazu ist ein weiteres Rechtsgeschäft erforderlich, bei beweglichen Sachen also beispielsweise deren Übergabe und Übereignung (§ 929). Solche Rechtsgeschäfte nennt man auch Verfügungen. Eine Verfügungist nach einer in der Rechtsprechung wiederkehrenden Formulierung ein Rechtsgeschäft, „durch das der Verfügende auf ein Recht unmittelbar einwirkt, es also entweder auf einen Dritten überträgt oder mit einem Recht belastet oder das Recht aufhebt oder es sonstwie in seinem Inhalt verändert“.[119]
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Das Abstraktionsprinzip, das vor allem von Savigny geprägt wurde,[120] knüpft an das Trennungsprinzip an: Beide Ebenen – Verpflichtung und Verfügung – sind auch in ihrer Wirksamkeit unabhängig voneinander. Das bedeutet zum einen, dass das Verfügungsgeschäft sich nur auf die Rechtsänderung bezieht (innere Abstraktion).[121] Daraus folgt der sog „sachenrechtliche Minimalkonsens“: Für die Einigung iSd § 929 ist nur erforderlich, dass eine Einigung darüber besteht, dass das Eigentum an der Sache übergehen soll. Eines Bezugs zum zugrundeliegenden Verpflichtungsgeschäft bedarf es nicht. Zum anderen bedeutet es, dass das Verfügungsgeschäft von der Wirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts unabhängig ist (äußerliche Abstraktion). Daraus folgt, dass bei Unwirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts die dingliche Güterzuordnung unberührt bleibt und eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung erforderlich ist (§§ 812 ff). In den meisten anderen Rechtsordnungenist das anders.[122] So gilt beispielsweise im österreichischen Privatrechtnicht das Abstraktionsprinzip, sondern das Kausalitätsprinzip(§§ 328 ff bzw §§ 425 ff öABGB): Die Unwirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts hat dem Kausalitätsprinzip zufolge auch die Unwirksamkeit des Verfügungsgeschäfts zur Folge. Eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung wird dadurch entbehrlich – der Veräußerer bleibt Eigentümer. Noch einen Schritt weiter von den deutschen Vorstellungen entfernt ist das französische Recht: Artt. 711, 1196 Abs. 1 Code civil bestimmen, dass es für die Übereignung lediglich einer Willenseinigung bedarf, die Übereignung also bereits durch den Abschluss des Kaufvertrages eintritt (Einheitsprinzip). Auf einen weiteren Publizitätsakt kommt es nicht an, ebenso wenig auf die Zahlung des Kaufpreises. Als Mindestvoraussetzung sieht Art. 1583 Code civil lediglich vor, dass die essentialia negotii klar bestimmt sein müssen (Konsensprinzip).[123]
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