a) Konkretisierung und Ergänzung rechtlicher Befugnisse
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Der Grundsatz von Treu und Glauben konkretisiert rechtliche Befugnisse. Das zeigen schon die vom Wortlaut des § 242geregelten Tatbestände. Nach § 242 ist der Schuldner verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Damit wird präzisiert, wie die Leistung zu erbringen ist. Es geht also um die Modalitäten der Leistungserbringung. § 242 ergänztinsoweit die §§ 243-274.[75] Wenn A beispielsweise sein Fahrrad an B verkauft und die beiden verabreden, dass A das Rad in den nächsten Tagen vorbeibringt, verlangt § 242, dass A nicht zur Unzeitkommt (etwa um 3 Uhr morgens). Ein anderes Beispiel bietet die Erfüllung am Erfüllungsort (§ 269)[76]. Wenn dort die Leistung etwa wegen einer Naturkatastrophe oder eines Bürgerkriegs unzumutbar oder unmöglich ist, muss sich der Schuldner auf einen anderen angemessenen Erfüllungsorteinlassen.[77] Umgekehrt muss auch der Gläubiger seinerseits die Leistung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verlangen.[78] So kann er dazu angehalten sein, eine Überweisung auf ein anderes als das von ihm angegebene Konto zu akzeptieren, wenn ihm daraus keine rechtlichen oder wirtschaftlichen Nachteile erwachsen.[79] Auch der Inhalt von Nebenleistungspflichten (§ 241 Abs. 1) und Schutzpflichten (§ 241 Abs. 2) wird unter Berücksichtigung von Treu und Glauben ermittelt.[80]
b) Begrenzung rechtlicher Befugnisse (insbesondere: Rechtsmissbrauch und Verwirkung)
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§ 242 kann rechtliche Befugnisse aber auch begrenzen. Hier zeigt sich die Kontrollfunktionvon Treu und Glauben: In der Rechtsanwendung kann überprüft werden, ob die Ausübung rechtlicher Befugnisse im konkreten Fall treuwidrig ist. Die Befugnis kann dann entsprechend eingeschränkt werden. Die wichtigsten Ausprägungen dieser Fallgruppe sind die Institute des Rechtsmissbrauchs(bzw der unzulässigen Rechtsausübung) und der Verwirkung. Sie zeigt sich aber auch etwa in der Begrenzung des § 266: Der Gläubiger ist danach berechtigt, Teilzahlungen zurückzuweisen. § 242 begrenzt diese Befugnis: Wenn nur ein relativ geringfügiger Teilbetrag fehlt, darf der Gläubiger die Annahme nicht verweigern.[81]
aa) Rechtsmissbrauch (unzulässige Rechtsausübung)
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Rechtsmissbrauch(unzulässige Rechtsausübung) ist mit § 242 nicht vereinbar. Darin zeigen sich immanente Grenzen aller rechtlichen Befugnisse.[82] Der BGH beschreibt den Kerngedanken wie folgt: „Das Prinzip von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten immanente Inhaltsbegrenzung und setzt der (auch gesetzlich zulässigen) Rechtsausübung dort Schranken, wo sie zu untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit offensichtlich unvereinbaren Ergebnissen führt“.[83] Rechtsmissbrauch ist also ergebnisorientiertund kann für die Verwirklichung gerechter Rechtsanwendung fruchtbar werden. Allerdings darf die Richterin (und auch die Studentin in Klausuren) nicht vorschnell eigene Gerechtigkeitserwägungen an die Stelle der Wertungsentscheidungen des Gesetzes setzen.[84] Bei zielgerichtetem, treuwidrigem Verhalten liegt § 242 nahe. Das darf aber nicht leichthin angenommen werden. Beispielsweise handeln Käufer, die bei Internetauktionen mitbieten, um von einem vorzeitigen Auktionsabbruch zu profitieren („Abbruchjäger“), grundsätzlich nicht rechtsmissbräuchlich.[85] Rechtsmissbrauch kann nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Interessenlage und der jeweiligen Fallbesonderheiten bejaht werden. Die Begründungslast ist hoch, weil § 242 hier insoweit als Ausnahme zu prima facie gegebenen rechtlichen Befugnissen wirkt. Rechtsmissbrauch setzt kein Verschulden voraus; allerdings sind in der Abwägung Verschuldenselementezu berücksichtigen.[86] Rechtsmissbrauch ist eine sehr weite Fallgruppe, zu der sich zahlreiche Unterfallgruppen gebildet haben:
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Eine Unterfallgruppeist die missbräuchliche Forderung einer Leistung, die ohnehin sogleich wieder zurückgewährt werden müsste (dolo agit qui petit quod statim redditurus est) . So kann etwa die Honorarforderung eines Architekten rechtsmissbräuchlich sein, wenn er das Erlangte sofort wieder als Schadensersatz herausgeben müsste.[87] Auch kann ein Vermieter vom Mieter nicht die Entfernung einer ohne Zustimmung des Vermieters angebrachten Parabolantenne verlangen, wenn er verpflichtet war, der Anbringung zuzustimmen.[88]
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Rechtsmissbrauch kann auch wegen Unverhältnismäßigkeitzu bejahen sein.[89] Der Verhältnismäßigkeitsgedanke zeigt sich in vielen schuldrechtlichen Normen, wie etwa den §§ 320 Abs. 2, 323 Abs. 5 S. 2, 439 Abs. 4 oder 543 Abs. 2 Nr 2. Aber auch außerhalb dieser Normen wirkt über § 242 ein Verhältnismäßigkeitsgebot im Schuldrecht. Beispielsweise kann der Käufer eines Neuwagens wegen Unverhältnismäßigkeit gem. § 242 daran gehindert sein, die Kaufpreiszahlung gem. § 320 Abs. 1 S. 1 wegen eines Sachmangels vollständig zu verweigern.[90] Allerdings liegen die Hürden für § 242 auch hier hoch. So hat der BGH Rechtsmissbrauch wegen Unverhältnismäßigkeit beispielsweise bei einem bereits für ca. 250 Euro behebbaren Lackschaden eines Neuwagens verneint. Der Verkäufer hatte nicht einmal angeboten, den Schaden selbst zu beseitigen (obwohl dies zu seiner Erfüllungspflicht gehört).[91] Auch das hat der BGH als Argument für die Schutzwürdigkeit des Käufers herangezogen.
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Rechtsmissbrauch kann im Einzelfall auch damit begründet werden, dass die Ausübung des Rechts für die andere Seite „schlechthin unzumutbar“wäre.[92] Wenn Verbraucher Widerrufsrechteausüben, handeln sie etwa in Ausnahmefällen rechtsmissbräuchlich iSd § 242, nämlich dann, wenn der Unternehmer besonders schutzbedürftig ist oder der Verbraucher arglistig oder schikanös handelt.[93] Das hat der BGH allerdings etwa in einem Fall verneint, in dem der Verbraucher unter Hinweis auf ein günstigeres Alternativangebot um Erstattung des Differenzbetrags gebeten hatte und – als der Unternehmer sich darauf nicht einließ – zurückgetreten war.[94] Bei Eheverträgen kann die Ausübung der vertraglichen Rechte rechtsmissbräuchlich sein, wenn sie zu einer unzumutbaren Lastenverteilung führen würde.[95]
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Unzulässige Rechtsausübung kann sich auch daraus ergeben, dass man zuvor selbst unfair gehandelt hat: Wer eine rechtliche Befugnis selbst unredlich herbeiführt, darf sich auf diese Befugnis gem. § 242 nicht berufen (turpitudinem suam allegans non audiatur) .[96] Dieser Gedanke liegt auch § 162 zugrunde, der den vom Anspruchsgegner treuwidrig verhinderten Eintritt einer Bedingung fingiert. Er kommt aber auch als Topos für die Anwendung des § 242 vor. Ein in der Literatur diskutiertes Beispiel bietet § 124: Wer zu einem Vertragsschluss durch arglistige Täuschung bestimmt wurde, muss binnen Jahresfrist anfechten. Steht nach Fristablauf § 242 der Inanspruchnahme aus dem Vertrag gleichwohl entgegen? Vorschnell darf man das nicht bejahen, wenn § 124 nicht ausgehöhlt werden soll.[97] § 242 kann man jedoch – auch in Klausuren – guten Gewissens in Anschlag bringen, wenn der Täuschende den Anfechtungsberechtigten auch noch bewusst veranlasst hatte, die Anfechtungsfrist verstreichen zu lassen.[98]
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Vorverhalten muss nicht unbedingt unredlich sein, um Rechtsmissbrauch zu begründen. Das zeigt die nächste Unterfallgruppe. Rechtsmissbrauch kann sich nämlich auch daraus ergeben, dass die Ausübung eines Rechts im Widerspruch zu eigenem (nicht notwendigerweise für sich genommen sanktionierbarem) Vorverhalten steht (venire contra factum proprium) . § 242 steht deshalb der Inanspruchnahme eines Bürgen durch eine Bank entgegen, wenn die Bank selbst den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Hauptschuldners schuldhaft verursacht und jede Regressmöglichkeit des Bürgen (gegen den Hauptschuldner) vereitelt.[99] Ein weiteres Beispiel betrifft die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen, deren primäre Rechtsfolge ja in der Unwirksamkeit einer Vertragsbestimmung liegt. Wer aber die unwirksame Klausel selbst verwendet hat, darf sich auf die Unwirksamkeit nach Treu und Glauben nicht berufen.[100] Auch die Einschränkung des § 142 Abs. 1gehört hierher: Wenn der Anfechtungsgegner die Erklärung mit dem vom Anfechtenden wirklich gewollten Inhalt gelten lassen will, darf sich der Anfechtende nicht auf § 142 Abs. 1 berufen,[101] da er andernfalls § 142 Abs. 1 instrumentalisieren würde, um sich im Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten zu setzen. Der Anfechtende soll nicht vor einem Vertrag des Inhalts geschlossen werden, den er ja selbst wollte.
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