Bei Vergewaltigungen sind die Zahlen noch deutlicher: 47% der Täter stammen aus Familie oder Verwandtschaft und 29% aus dem Bekanntenkreis oder der Nachbarschaft, in 4% der Fälle bestand eine berufliche Beziehung.
Ansatzpunkt solcher statistischer Betrachtungen ist allerdings oft das Motiv. Die Statistik der Brandstiftungen liefert die genannten Zahlen, weil sie die Motivlage widerspiegelt. Ist aufgrund der Tatumstände von vornherein klar, dass ein anderes Motiv im Vordergrund steht, helfen solche Statistiken nur bedingt weiter, um im konkreten Fall die Wahrscheinlichkeit bestimmter Hypothesen zu begründen.
Psychologie und Kriminologie zeigen also Tatsachen und Zusammenhänge, die fahndungs- und beweistechnisch verwertet werden können. Die Forschungen beziehen sich aber oft auf isolierte Probleme oder auf gerade öffentlich diskutierte umstrittene Phänomene. Es wäre wahrscheinlich günstig, systematisch und übersichtlich für alle Tatkategorien darzustellen, welche Täterkategorien besonders häufig sind, um zu besseren Ergebnissen zu kommen. Allerdings müsste berücksichtigt werden, dass solche Typisierungen von Tätern auch kulturabhängig sind: Eine amerikanische Statistik über das Profil der Verfasser von Erpresserbriefen wird sich nicht ohne weiteres auf europäische Verhältnisse übertragen lassen.
4.5 Der Nachweis der konkreten Straftat
Erst wenn man eine klare Vorstellung davon hat, um welche Straftaten es bei der Beurteilung eines gewissen Lebensvorgangs geht und wer als Täter in Frage kommt, kann man von der heuristischen zur algorithmischen Arbeit übergehen.
Es geht dann um die Argumentation nach dem Schema des juristischen Syllogismus . Syllogistik ist eine Methode des logischen Schließens und Beweisens; es geht darum, aus einem wahren Obersatz und einem Untersatz eine Konklusion zu bilden, die wahr ist. Beim juristischen Syllogismus ist der gesetzliche Straftatbestand der Obersatz; er hat immer die gleiche Struktur: Die Erfüllung sämtlicher Tatbestandsmerkmale führt zu einer Rechtsfolge, nämlich zu einer (in einem bestimmten Rahmen festgelegten) Strafe. Der Untersatz umfasst den Beweis, dass in einem konkreten Sachverhalt ein bestimmter Täter alle Tatbestandsmerkmale erfüllt hat. Die Konklusion lautet dann, dass dieser Täter zur vorgesehenen Strafe zu verurteilen ist. So am Beispiel einer Körperverletzung nach § 223 dt StGB:
TatbestandWer eine andere Person körperlich misshandelt, |
Rechtsfolgewird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
SachverhaltPaul versetzt Günther absichtlich einen Faustschlag |
Tatbestandund misshandelt ihn damit körperlich. |
SachverhaltPaul versetzt Günther absichtlich einen Faustschlag |
Rechtsfolgeund wird deshalb mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
Diese Aufgabe ist nicht mehr heuristisch, weil auf der zweiten Ebene des Schemas, also bei der Zuordnung des Sachverhaltes zu den Tatbestandsmerkmalen, nur noch eine genau feststehende Zahl von objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen zu beweisen ist. Das heißt allerdings nicht, dass die Aufgabe von Anfang an begrenzt ist: Über die Frage, wann bzw. unter welchen Umständen ein Tatbestandsmerkmal rechtsgenüglich bewiesen ist, lässt sich natürlich immer streiten.
Einige Merksätze:
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Die kriminalistische Aufgabe besteht darin, Straftaten zu erkennen, die erforderlichen objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale, Täter, Tatzeit, Tatort, Modus Operandi, Tatmittel und Motiv (die 7 goldenen „W“) sowie die strafzumessungsrelevanten Umstände in prozessual zulässiger Form zu beweisen und das Ergebnis kritisch zu überprüfen. |
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Um bei einer gegebenen Sachlage die in Frage kommenden Tatbestände zu erkennen, sollte man vom Sachverhalt zum Tatbestand und zurück pendeln. |
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Die Beweise (Personen- wie Sachbeweise) müssen stabil sein, um das Beweisgebäude aus Tatbestand, Tathergang und Täterschaft zu halten. |
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Im untechnischen Sinn hilft die Unterscheidung zwischen Täter-Opfer-Delikten und Delikten mit beidseitiger Täterschaft, zwischen geplanten und spontanen Straftaten und zwischen Straftaten zur Erzielung von Gewinnen und zur Vermeidung von Verlusten weiter, weil jede dieser Kategorien durch typische Beweisprobleme gekennzeichnet ist. |
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Geht es darum, Straftaten zu erkennen und zu überprüfen, welche Straftatbestände in Frage kommen, dann sollte man heuristisch vorgehen und dabei die Tatsituation, das Umfeld der Tat mit seiner Vorgeschichte, seiner Breite und den Tatfolgen vorerst möglichst umfassend analysieren, um nicht Gefahr zu laufen, bestimmte Straftaten zu übersehen (beachte Vortat-, Haupttat- und Nachtatphase). |
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Diese umfassende Analyse erleichtert bei unbekannter Täterschaft die Beschreibung des Tätertyps, der als Täter in Frage kommt. Kriminologische Erkenntnisse erleichtern es, die Suche dort zu beginnen, wo sie am erfolgversprechendsten ist. |
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Ist ein anfänglich unklarer Sachverhalt so weit abgeklärt, dass sich einem bestimmten Täter eine bestimmte Straftat zuordnen lässt, dann kann man zur syllogistischen Arbeit übergehen. Man beweist dem Täter, dass er mit seinem Verhalten alle objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale eines bestimmten Straftatbestandes erfüllt hat. |
[1]
Blaise Pascal (1623-1662), französischer Religionsphilosoph und Naturwissenschaftler, Begründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
[2]
Haas 2017, S. 117.
[3]
Ebd. , S. 120 f.
[4]
Wie komplex der Wahrheitsbegriff im Zusammenhang mit der Wahrnehmung ist, kann man sehr schön bei Hoffmann 2020 nachlesen.
[5]
Zur originären Funktion des Strafverfahrensrechts s. Straub/Weltert 2014, Art. 1 Rn 6 f.
[6]
Haas 2017, S. 117.
[7]
Zum Grundsatz der Formstrenge im Strafprozessrecht s. Straub/Weltert 2014, Art. 2 Rn 12 f.
[8]
Ackermann/Vogler/Baumann/Egli 2019, S. 1.
[9]
Groß-Höpler 1922, S. 177 (vermutlich ist Höpler, der die 7. Auflage des Handbuchs für Untersuchungsrichter bearbeitet hat, der erste, der „die sieben goldenen ‚W‘ des Kriminalisten“ so formuliert hat. In der 1. Auflage dieses Standardwerkes (1893) zitiert Groß nur den „alten, goldenen Juristenspruch: Quis, quid, ubi, quibus, auxiliis, cur, quommodo, quando?“).
[10]
Douglas/Olshaker 1996, S. 40.
[11]
Fenyvesi 2013, S. 248.
[12]
Roxin 2006, § 7 Rn. 6 ff.; Donatsch/Tag 2014, § 7.
[13]
BVerfGE 105, 135.
[14]
Siehe mit weiteren Beispielen auch Kahnemann 2011, S. 342 ff.
[15]
George Polya 1887-1985, in Ungarn geborener Mathematiker.
[16]
Johannes Müller 1921-2008, deutscher Ingenieur und Heuristiker.
[17]
Roxin 2006, § 10 ff.; Donatsch/Tag 2013, § 8 f.
[18]
Den Einsatz paranormaler Fähigkeiten als Alternative zu klassischen Methoden thematisiert Pajarola 2007, S. 364 ff.
[19]
Humbel 2009.
[20]
Knecht 2011, S. 261 ff.
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