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Eine Rolle spielt bei alldem möglicherweise auch die Grundkonfiguration des Rechtsschutzsystems in all ihren historischen und psychologischen Zusammenhängen. So ist für Großbritannien und Frankreich, wo die Funktionsfähigkeit der Verwaltung im Vordergrund steht, von einem „Vertrauensvorschuss“ zugunsten der Verwaltung gesprochen worden, wohingegen in Österreich oder in Deutschland im Vergleich ein eher geringes Vertrauen in die Verwaltung diagnostiziert wird, was durch die den Gerichten beigemessene wichtige Rolle „kompensiert“ werde.[256]
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In der Langzeitentwicklung ist die Tendenz zu beobachten, dass einer gerichtlichen Überprüfung nicht zugängliche Spielräume der Verwaltung zwar einerseits explizit mittels verschiedenster dogmatischer Einzelfiguren wie Beurteilungsspielräumen oder Ermessen durch die Gerichte anerkannt und respektiert werden. Zugleich nehmen die Freiheiten der Verwaltung innerhalb dieser Figuren aber eher ab, wobei sicherlich je nach Sachbereich Unterschiede bestehen. Die dogmatischen Figuren, die die Rechtsprechung hier verwendet, betonen im Ausgangspunkt den Unterschied zwischen der Tatbestandsseite und der Rechtsfolgenseite einer in Rede stehenden Norm. Anerkannt ist, dass vor den Gerichten abgeschirmte administrative Entscheidungsspielräume in unterschiedlichen Formen auftreten können, sei es als tatbestandliche Beurteilungs- oder als rechtsfolgenseitige Ermessensspielräume. Dahinter steht möglicherweise ein ganzheitliches Problem, das von der jeweiligen rechtsdogmatischen Einzelfigur unabhängig ist.[257] Die Spielraumlehren des Unionsrechts oder anderer Rechtsordnungen deuten in diese Richtung.[258] Für Rechtsprechung und Lehre in Deutschland aber ist der Unterschied zwischen der Tatbestandsseite und der Rechtsfolgenseite gleichwohl nach wie vor von großer Bedeutung. Während ein unbestimmter Rechtsbegriff auf Tatbestandsseite nur ausnahmsweise einen unüberprüfbaren Beurteilungsspielraum der Verwaltung begründet, liegt bei Eröffnung von rechtsfolgenseitigem Ermessen stets ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer administrativer Entscheidungsspielraum vor (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
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In jüngerer Zeit verwischen dabei die Grenzen zwischen tatbestandlichem Beurteilungsspielraum und Rechtsfolgenermessen in manchen Konstellationen, wie sich in der Diskussion um das „Regulierungsermessen“ zeigt. Dabei handelt es sich um einen administrativen Entscheidungsspielraum, den BVerwG und BVerfG im Bereich des Telekommunikationsrechts anerkannt haben und der sich sowohl auf die Tatbestands- als auch auf die Rechtsfolgenseite erstreckt.[259]
aa) Überprüfbarkeit des Sachverhalts, unbestimmter Rechtsbegriffe
und von Beurteilungsspielräumen
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Der Untersuchungsgrundsatz nach § 86 VwGO gibt den Gerichten nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht zur Ermittlung des Sachverhaltes.[260] Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen, im Unterschied zum Zivilprozess, in dem der Verhandlungsgrundsatz gilt.[261]
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Abgrenzungsfragen stellen sich gleichwohl, wenn das für die streitbefangenen realen Vorgänge maßgebliche Gesetz mit unbestimmten Rechtsbegriffen operiert, weil es um Wertungs- und Einschätzungsfragen geht oder um Fragen, die eine besondere Sachkunde erfordern, die so nicht ohne Weiteres dem Gericht zur Verfügung steht, oder um Sachverhaltskonstellationen, die zeit- oder situationsgebunden sind.
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Grundsätzlich überprüfen die Gerichte wegen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG die Tatbestandsseite in vollem Umfang. Gleichwohl gestehen die Gerichte auf der Tatbestandsseite für bestimmte Fallgruppen der Verwaltung einen Beurteilungsspielraum zu, der nur eingeschränkt überprüft wird. Beispiele sind Prüfungsentscheidungen, bestimmte Prognoseentscheidungen oder dienstliche Beurteilungen. Die Gerichte überprüfen dabei lediglich, ob der Beurteilungsspielraum verkannt wurde (Beurteilungsausfall), ob ein unzutreffender Sachverhalt angenommen, anerkannte Bewertungsmaßstäbe verkannt oder sachfremde Erwägungen angestellt wurden (Fehlgebrauch) oder ob eine Beurteilungsüberschreitung vorliegt. Diese Fehlerlehre ist an die Ermessensfehlerlehre angelehnt.[262]
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Besondere Schwierigkeiten bereiten sog. Kopplungsvorschriften. Dies sind Normen, die einen unbestimmten Rechtsbegriff auf der Tatbestandsseite mit Ermessen auf der Rechtsfolgenseite der Norm verbinden.[263] Hier stellt sich die Frage, in welchem Umfang die Gerichte prüfen dürfen, insbesondere ob für die Normelemente die jeweiligen Regeln gelten oder eine Gesamtbetrachtung anzustellen ist oder die Regeln für das eine Normelement auf das andere Normelement ausstrahlen. Hierzu besteht keine allgemeine Antwort, es kommt letztlich auf die konkrete Norm an.
bb) Überprüfbarkeit von Ermessensfragen
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Ermessen besteht, wenn auf der Rechtsfolgenseite einer Norm Spielraum für mehr als eine Entscheidungsmöglichkeit eröffnet wird („Kann-Vorschrift“).[264] Auch hier stellt sich wie bei den unbestimmten Rechtsbegriffen die Frage, inwieweit dieser Spielraum gerichtlich überprüft werden kann. § 114 VwGO legt dazu fest, dass soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, das Gericht nachprüft, ob der Verwaltungsakt oder dessen Ablehnung oder Unterlassung rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Die Verwaltungsbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Die Verwaltungsgerichte überprüfen bei Ermessensentscheidungen nur einen rechtlichen Rahmen. Die Ermessensfehlerlehre umfasst den Ermessensausfall (Behörde hat Ermessen übersehen), den Ermessensfehlgebrauch (sachfremde Erwägungen oder Gewichtungsfehler) und die Ermessensüberschreitung (Rechtsfolge außerhalb des gesetzlich gesteckten Rahmens).
cc) Maßstäbe der Kontrolle
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In Deutschland wurzeln die Maßstäbe für die Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte in der Verfassung. Zum einen leitet sich ein umfassender Kontrollumfang aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG ab, wonach der Richter an Recht und Gesetz gebunden ist. Dies umfasst alle formellen und materiellen Gesetze des Bundes und der Länder.[265] Ferner gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz eine Rechtsschutzgarantie, die im Zweifel den strengeren Prüfmaßstab gebietet.
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Die Rechts- und Realakte der Verwaltung müssen dementsprechend mit Gesetzesrecht vereinbar sein. Dieses muss freilich seinerseits konform mit höherrangigem Recht sein. Dies dürfen Gerichte auch prüfen. Bestehen aufgrund der Prüfung im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit des gesetzlichen Prüfungsmaßstabes Zweifel, so müssen die Gerichte nach Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vorlegen, das für nachkonstitutionelle Parlamentsgesetze die Verwerfungskompetenz beansprucht. Für vorkonstitutionelle formelle und materielle Gesetze haben allerdings die Verwaltungsgerichte selbst eine Verwerfungskompetenz.
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Neben dem Gesetzesrecht sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts (Art. 25 GG), sie sind ebenfalls von den Verwaltungsgerichten als Prüfungsmaßstab heranzuziehen. Das Völkervertragsrecht hat innerstaatlich in Deutschland den Rang von Gesetzesrecht (Art. 59 Abs. 2 GG), so dass es ebenfalls als Kontrollmaßstab in Betracht kommt.
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