§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland› IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft
IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der
europäischen Rechtsgemeinschaft
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Ähnlich wie das Verfassungsrecht durch die ausgreifende Rechtsprechung des BVerfG kontinuierlich an Bedeutung für die Verwaltungsgerichtsbarkeit gewonnen hat, ist auch das Europarecht wegen der umfassenden Durchdringung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen durch das Unionsrecht für die Verwaltungsgerichte in vielen Bereichen alltäglicher Begleiter geworden. Die Verwaltungsgerichte in Deutschland haben das Europarecht dabei in der Gesamtbetrachtung überwiegend konstruktiv aufgenommen.
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Die von EuGH-Rechtsprechung und Lehre entwickelten Figuren des europäischen Verwaltungsrechts sind von der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland im Wesentlichen ohne grundsätzliche Beanstandung geblieben. Das Grundmuster des europäisierten Verwaltungsrechts ist in Deutschland nicht prinzipiell in Frage gestellt worden: Ergeben sich aus dem Anwendungsvorrang des Europarechts Abweichungen für die Rechtsanwendung, so werden diese in aller Regel hingenommen.
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Ohne jeden Zwischenfall ist die Entwicklung freilich auch nicht verlaufen. So verbinden sich mit der Rs. Alcan [285] aus dem Jahre 1997, in der die Vertrauensschutzgarantien des deutschen Verwaltungsrechts mit dem vorrangigen Europarecht kollidierten, eine durchaus kontroverse Diskussion und ein Aufmerksamkeitsschub für die Überformung des nationalen Verwaltungsrechts durch Europarecht. Die Aufregung konzentrierte sich indessen vor allem auf das Schrifttum[286] und hat in Gerichtsentscheidungen keinen Niederschlag gefunden. Ein prinzipieller Widerstand gegen die Alcan -Rechtsprechung ist in der Folge dann auch zunehmend verschwunden.[287]
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Es bestehen dabei aber auch kritische Einschätzungen: Auch mehr als 20 Jahre nach dem Alcan -Urteil wird für die Verarbeitung der Einwirkungen des Europarechts auf das innerstaatliche Recht bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit Optimierungspotenzial gesehen.[288] Die Durchsetzung des Europarechts im innerstaatlichen Rechtskreis werde durch die Verwaltungsrechtsprechung partiell auch dort behindert, wo es für die Gerichte Auslegungsspielräume gibt – letztlich sei die Akzeptanz abweichender Rationalitäten des Europarechts eine Frage der inneren Einstellung einer jeden Richterpersönlichkeit.[289]
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland› IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 1. Allgemeines
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Die Einwirkung des Europarechts auf das nationale Verwaltungsrecht ist schon in einer Reihe von älteren EuGH-Entscheidungen von der Fleischkontor -Entscheidung 1971 bis zum Milchkontor -Urteil 1983 nachweisbar[290] und von den deutschen Verwaltungsgerichten bis hin zum BVerwG akzeptiert gewesen,[291] auch wenn noch zu Beginn der 1990er-Jahre ein Richter des BVerwG formulierte, dass das „an sich festgezimmerte, in vielen Stürmen bewährte Schiff mit dem Namen ‚Deutsches Verwaltungsrecht‚“ nun von allerlei europäischem Recht „umspült“ werde.[292] Über solche Vorstellungen seetauglicher Versiegelung eines abgeschlossenen Rechtskörpers ist die Zeit hinweg gegangen.[293]
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In eine zeitliche Nähe zum Alcan -Urteil 1997 fallen gleich mehrere umfassende Analysen der sich mit der europäischen Integration verbindenden Veränderungen des Verwaltungsrechts in Deutschland. Neben den Staatsrechtslehrertagungsvorträgen von Manfred Zuleeg und Hans Werner Rengeling 1993[294] sind vor allem die Mitte der 1990er-Jahre entstandenen Habilitationsschriften von Stefan Kadelbach, Armin Hatje, Michael Brenner und Thomas von Danwitz zu nennen.[295]
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Breiten Raum nehmen in diesen Abhandlungen nicht nur die Kollisionslagen zwischen dem deutschen und dem europäischen Recht ein. Schon mit der differenzierten Antwort auf die Frage nach der kompetenziellen Grundlage[296] für die europäisch induzierte Beeinflussung nationalen Verwaltungsrechts verband sich die zunehmend verbreitete Einsicht, dass das nationale Recht auf Dauer nicht vom neuen Recht unverändert bleiben würde.[297] Es wurde nämlich immer deutlicher, dass unabhängig von europäischen Kompetenztiteln für die „Regelung“ von Verwaltungsverfahren, Verwaltungsrecht u.ä. über das europarechtliche Diskriminierungsverbot und das europarechtliche Effektivitätsprinzip eine gleichsam indirekte Europäisierung erfolgte. In den genannten Arbeiten wurden in aller Regel Einzeltopoi des „Verwaltungsrechts unter europäischem Einfluss“ abgearbeitet,[298] etwa die Bestimmung des subjektiven Rechts,[299] Fragen der Haftung,[300] der Bestandskraft von Verwaltungsentscheidungen,[301] der Einflüsse auf die Verwaltungsorganisation und auch schon Fragen des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes.[302]
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Jenseits der mit dem Alcan -Fall besonders sichtbaren Einwirkungen auf das nationale Verwaltungsverfahrensrecht, sind die Einwirkungen auf das nationale Verwaltungsprozessrecht zunehmend in das Bewusstsein der Verwaltungsrechtswissenschaft gerückt.[303] Hier gilt die von Claus Dieter Classen für das Verwaltungsverfahrensrecht gemachte Beobachtung von der Europäisierung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts als zwingende Folge der Europäisierung des materiellen Verwaltungsrechts[304] entsprechend.
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Ansonsten hat sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Einwirkungen, etwa durch Dirk Ehlers,[305] zunächst eher auf die praktischen Fragen, unter weitgehender Ausblendung theoretischer Grundüberlegungen, konzentriert. Oliver Dörr hat demgegenüber die grundsätzliche Frage nach der Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes unter den Bedingungen der europäischen Integration thematisiert.[306] Er kommt zu dem Ergebnis, dass einerseits der gemeinschaftsrechtlich überlagerte Art. 19 Abs. 4 GG effektiven Rechtsschutz vor deutschen Gerichten zur Geltendmachung subjektiver Rechte aus Gemeinschaftsrecht verbürgt, zugleich aber Art. 19 Abs. 4 GG dem Einzelnen auch effektiven Rechtsschutz zur Durchsetzung der Grenzen des innerstaatlichen Wirkungsanspruchs des Europarechts garantiert.[307]
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland› IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 2. Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip
2. Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip
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Die EU verfügt nur über eine sehr kleine Eigenverwaltung. Sie ist daher in aller Regel auf die Unterstützung der mitgliedstaatlichen Verwaltungen angewiesen. Das Verwaltungsverfahren und der Rechtsschutz gegen die Verwaltung werden dabei weiterhin von der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung zur Verfügung gestellt. Die gleichförmige Anwendung des Europarechts darf dabei aber nicht beeinträchtigt werden. Der EuGH hat dazu Prinzipien entwickelt, die Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts sind.
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Das Äquivalenzprinzip fordert, dass die Mitgliedstaaten unionsrechtliche Sachverhalte nicht ungünstiger behandeln dürfen als rein innerstaatliche Maßnahmen.[308] Für den Rechtsschutz gegen die Verwaltung in Deutschland verbinden sich mit dem Äquivalenzprinzip keine nennenswerten Schwierigkeiten, weil im deutschen Verwaltungsprozess keine Ansatzpunkte für unterschiedliche Verfahrensgestaltungen abhängig vom Ursprung des materiellen Rechts bestehen.[309]
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