140
Zwar führt die VwGO eine Reihe von Klage- und Verfahrensarten auf. Wie das Beispiel der dort nicht ausdrücklich erwähnten allgemeinen Leistungsklage[208] belegt, sind die in der VwGO ausgeformten Klagen aber nicht als abschließende Auflistung zu sehen, die andere Wege zum Verwaltungsgericht ausschließt. Die Systementscheidung bei der Umschreibung der Kompetenzen der Verwaltungsgerichte zugunsten einer Generalklausel, gegen ein Enumerationsprinzip, ist damit eindeutig.
dd) Festlegungen zur Beschwerdeberechtigung (Klagebefugnis)
141
Die VwGO hält für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen in § 42 Abs. 2 VwGO folgenden Grundsatz fest: Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen eigenen Rechten verletzt zu sein. Die Klage für jemanden anderen oder eine actio popularis schließt diese Regelung aus. In dieser Bestimmung schlägt sich die starke subjektiv-rechtliche Orientierung des deutschen Rechtsschutzsystems[209] nieder. Sie wird über den Wortlaut hinaus analog für die Leistungsklage herangezogen.
142
Eine Filterung mit dem Ziel, möglichst nur den Betroffenen den Rechtsweg zu ebnen, findet sich auch bei den anderen Klage- und Verfahrensarten. So ist bei der Feststellungsklage neben der Klagebefugnis ein Feststellungsinteresse erforderlich, bei der Fortsetzungsfeststellungsklage ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse.
143
Im Vergleich mit dem am objektiven Rechtsschutz orientierten französischen Verwaltungsrechtsschutz[210] wird die Filterfunktion der Klagebefugnis deutlich: Eine völlige Freigabe des Zugangs zum Gericht im Sinne einer Popularklage ist zwar selbst unter den Vorzeichen eines objektiven Rechtsschutzes nicht vorgesehen. Der recours pour excès de pouvoir gegen einen rechtswidrigen acte administratif setzt ein intérêt pour agir voraus, das aber sehr weit gefasst wird: Auch ein potenzielles Interesse reicht für die Klagebefugnis grundsätzlich aus, gleichgültig ist, ob das Interesse individueller oder kollektiver Art ist.[211]
144
Die schwierigeren Fragen des Zugangs zum Gericht betreffen drei- und mehrseitige Rechtsverhältnisse bei Drittklagen.[212] Nach der Schutznormtheorie kommt es darauf an, ob eine Norm zumindest auch den Schutz von Individualinteressen bezweckt und dem Einzelnen die Rechtsmacht einräumt, von den Normverpflichteten die Einhaltung der Rechtsnorm verlangen zu können.[213] Hier wird die Nachvollziehbarkeit der Interpretationsleistungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit kritisch kommentiert.[214]
ee) Funktion des Klägers im System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes
145
Der Kläger oder Antragsteller mit seiner subjektiven Berechtigung ist die zentrale Figur im deutschen Verwaltungsprozess. Eine Indienststellung des Einzelnen zur Ermöglichung einer Verwaltungskontrolle ist dabei kein zentrales Anliegen. Der Einzelne wird mit seiner Klage gegen die Verwaltung nicht im öffentlichen Interesse tätig. Dass eine Klage die Kontrolle der Verwaltung auslöst und ermöglicht und bei Stattgabe auch allgemeinere Effekte hat, weil die Rechtstreue der Verwaltung sich dadurch im Idealfall verbessert, stellt sich als Nebenerscheinung der Rechtsschutzkonzeption dar.[215]
b) Die wichtigsten Verfahrensarten
146
Das deutsche Verwaltungsprozessrecht unterscheidet allgemein zwischen Gestaltungs-, Leistungs- und Feststellungsklagen.
147
In der VwGO werden die Klage- und Verfahrensarten sehr stark um die zentrale Handlungsform der Verwaltung, den Verwaltungsakt (§ 35 VwVfG), herum konstruiert. Seine Anfechtung im Falle einer Belastung durch Verwaltungsakt bzw. das Erstreiten eines begünstigenden Verwaltungsaktes stehen im Zentrum der VwGO. Die Möglichkeiten von Feststellungsklagen haben Auffangfunktion. Soweit die Verwaltung durch Normen handelt, besteht die Möglichkeit der Normenkontrolle. In dem Maße, in dem die Verwaltung nicht durch Verwaltungsakt, sondern durch Realakt handelt oder handeln müsste, hat die Praxis eine allgemeine Leistungsklage konzeptualisiert, die heute gewohnheitsrechtlich anerkannt ist. Die echte Verpflichtungsklage ist im europäischen Vergleich wenig verbreitet, die Anfechtung der versagenden Verfügung erscheint offenbar vielerorts besser mit Vorstellungen von Gewaltenteilung vereinbar zu sein.[216]
148
Die Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO ist die klassische Klageart, die sich am typischen Verwaltungshandeln der Eingriffsverwaltung orientiert. Sie bezieht sich ausdrücklich auf Verwaltungsakte als belastende Einzelakte der Verwaltung. Der Verwaltungsakt als zentrale Kategorie des Verwaltungsrechts wird in § 35 VwVfG definiert als „jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist“.[217]
149
Mit der Anfechtungsklage kann die Aufhebung des angegriffenen Verwaltungsaktes durch das Gericht erreicht werden (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).[218] Bereits die Erhebung der Anfechtungsklage hat nach § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO eine aufschiebende Wirkung (Suspensiveffekt),[219] so dass die Belastung durch den angegriffenen Verwaltungsakt zunächst nicht eintritt. Die aufschiebende Wirkung muss also nicht – wie nicht selten in anderen Staaten[220] – gesondert beantragt und gerichtlich entschieden werden.
150
Die Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 2. Alt. VwGO betrifft die Konstellation, in welcher der Einzelne einen (begünstigenden) Verwaltungsakt begehrt, die Verwaltung diesen aber verweigert oder schlicht nicht auf einen entsprechenden Antrag reagiert. Hier verurteilt das Verwaltungsgericht die Behörde entweder dazu, den begehrten Verwaltungsakt zu erlassen oder aber, soweit Ermessensspielräume bestehen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (§ 113 Abs. 5 VwGO).[221] Das Gericht trifft insoweit keine eigene Sachentscheidung anstelle der Behörde.[222]
cc) Fortsetzungsfeststellungsklage
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In bestimmten Konstellationen hat der Einzelne ein Interesse an einer gleichsam nachträglichen Klärung, ob die Verwaltung so hätte handeln dürfen, wie sie es getan hat, auch wenn sich die fragliche Maßnahme inzwischen erledigt hat. Für diese Konstellationen, die im Ausgangspunkt wieder den Verwaltungsakt in den Blick nehmen,[223] besteht die Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (je nach Erledigungszeitpunkt – vor oder nach Klageerhebung – und ursprünglich statthafter Klageart – Anfechtungsklage oder eine andere Klageart – in direkter, analoger oder doppelt-analoger Anwendung).
dd) Allgemeine Leistungsklage
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Anfechtungsklage und Verpflichtungsklage gehen ins Leere, wenn es gar nicht um einen Verwaltungsakt geht, sondern stattdessen ein schlichtes hoheitliches Handeln (Realakt) oder Unterlassen begehrt wird. Dafür findet sich in der VwGO keine ausdrückliche Regelung. Die Verpflichtungsklage der VwGO[224] ist eine spezielle, auf den Erlass eines Verwaltungsaktes begrenzte Leistungsklage. Die Lücke im Rechtsschutzsystem schließt die allgemeine Leistungsklage, die letztlich als ungeschriebene Klageart auf Gewohnheitsrecht beruht. Die Zulässigkeit einer solchen Rechtsfortbildung wird mit Blick auf die §§ 43 Abs. 2 Satz 1, 111, 113 Abs. 4, 169 Abs. 2 und 170 VwGO bejaht, weil in diesen Bestimmungen das Bestehen einer Leistungsklage vorausgesetzt wird.
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