Irgendwann hatten die vier genug Streicheleinheiten und gingen, um am vertrockneten Grass zu knabbern. Ich beobachtete sie eine Weile, dann suchte ich einen Schattenplatz, denn es war brütend heiss in der Sonne. Schliesslich setzte ich mich auf die Schaukel, die am Baum hing, der neben dem Haus stand. Ich schaukelte leicht hin und her und starrte in die Weite hinaus. Was konnte ich bloss tun? Es war mir eindeutig zu heiss, um meine Erkundungstour fortzusetzen. Ich hatte kein Netz, ich wusste nicht, ob sie hier Wireless hatten, und falls sie hatten, wie das Passwort lautete. Es war niemand da, mit dem ich etwas hätte unternehmen, sprechen oder, was weiss ich, machen können. Na toll, an meinem ersten Tag hier im Reservat wurde ich einfach alleine auf dem Hof gelassen.
Was würde ich die ganze Zeit über hier machen? Ich hatte keine Ahnung und schaute mich verzweifelt um. Nichts als Hügel mit vertrocknetem Gras und noch einer und noch einer … dann der Himmel. Mehr war hier nicht zu sehen. Was fand meine Tante an dieser Landschaft so bezaubernd, um sich hier niederzulassen! Die Trostlosigkeit machte mich traurig. Ich fühlte mich einsam. Was genau hatte mir daran gefallen, als ich aus dem Fenster geschaut hatte? Ich scharrte mürrisch mit den Schuhen auf der vertrockneten Erde. Dann beschloss ich, meine Headphones zu holen und Musik zu hören.
Gegen halb sechs kam meine Tante mit den Kindern zurück. Der Wagen war vollgepackt mit Einkaufstüten, die ich ihr in die Küche tragen half.
Naomi, Leon und Ron begannen auf der Veranda mit kleinen Figürchen zu spielen. Ich kniete mich zu ihnen auf den Boden und fragte: «Was spielt ihr da?»
«Wir spielen mit unseren Holzfiguren. Die hat uns Papa geschnitzt und bemalt.»
Ich betrachtete die Figuren eingehend. Sie waren unglaublich raffiniert und exakt geschnitzt, fein und liebevoll. Mit Farben ganz bunt angemalt und mit Perlen, Fäden und Stoffen verziert. «Die sind wunderschön. Euer Papa ist ja ein richtiger Künstler.»
«Hihi», kicherte Naomi verlegen und fragte: «Findest du? Unser Grossvater, also sein Vater, hat ihm das beigebracht. Das ist ein altes Kunsthandwerk der Oglala-Lakota, weisst du», sagte Naomi stolz. Ron und Leon nickten vielsagend.
«Spielst du mit uns?», fragte Leon und schaute mich hoffnungsvoll aus seinen kleinen Knopfaugen an.
«Vielleicht später. Jetzt muss ich eurer Mama in der Küche helfen.»
«Das ist aber schade.»
«Macht euch keine Sorgen, ich werde noch genügend lange hier sein, um mit euch zu spielen.» Zu lange werde ich noch hier sein, dachte ich im Stillen und wuschelte durch Leons Haare, der überrascht quiekte. Ich lachte, stand auf, griff nach den Einkaufstüten, die ich auf der Veranda abgestellt hatte und ging ins Haus. In der Küche standen weitere Einkaufstüten. Jul hatte begonnen, die Einkäufe auszuräumen und zu verstauen.
«Hier bin ich wieder. Was kann ich tun?»
«Du könntest diese Lebensmittel in den Schrank räumen, und wenn du damit fertig bist, die Kartoffeln schälen, in feine Scheiben schneiden und in die Pfanne legen. Das wäre super.»
«Okay.» Ich war froh, etwas tun zu können. Wir redeten über dies und das. Jul stellte mir keine Fragen weder über die Schule noch über meine Familie. Dafür war ich ihr dankbar. Ich hatte keine Lust, über Zuhause nachzudenken, geschweige darüber zu sprechen.
Beim Abendessen erzählte Bill von der Arbeit mit der Bisonherde. Er hatte vor zwei Jahren begonnen, Bisons zu züchten. Die Bisons wurden in ein kleines Tal getrieben, in dem es grüneres Gras gab. Es war wieder ein sehr trockener Sommer, und Bill musste ständig schauen, dass die Bisons genug zu trinken und zu fressen hatten. Bill erklärte mir, dass sie die Bisons zuerst nicht mit einem Zaun eingesperrt hätten, sondern frei herumwandern liessen wie früher. Nachdem die Herde mehrmals zu weit weg gegangen war, stellten sie einen Zaun auf. Das vereinfachte einerseits die Arbeit, andererseits brauchte es viel Zeit und Geld, um einen stabilen Zaun zu bauen. Das alles war schön und gut, doch interessierte es mich nicht wirklich. Ich hörte halbherzig zu und verzog mich nach dem Abendessen auf mein Zimmer.
Bill hatte das Wireless angeschaltet, und so legte ich mich auf mein Bett, um die Chat-Nachrichten zu lesen. Meine drei besten Freundinnen Lejla, Marie und Shona hatten mir mindestens eine Million Nachrichten geschickt, eine ungeduldiger als die andere. Ich freute mich und begann zurückzuschreiben in unserem Mädelschat.
Hey Mädels! ♡ Hier ist alles io. Meine Tante ist ganz oke und ihre Familie auch. Ich wurde von einem super Typen am Flughafen in Rapid City abgeholt. Er heisst Liam und ist echt cool drauf. So nun habt ihr von mir gehört! Ich lebe noch ☺
Und wie läuft’s so zu Hause? Schon gepackt für Spanien?
Innert wenigen Minuten kam eine Nachricht zurück, Shona war wie immer die Schnellste: Hey Darling ♡ Das tönt gar nicht übel! Schnapp dir diesen Typen ☺ und geniess es einfach! Lass dich auf ein Abenteuer ein! Halloo, du bist in Amerika!! Da können schliesslich Träume wahr werden! Okay?! Lass es krachen!! Und verkriech dich nicht unter deiner Bettdecke!! Vergiss, dass deine Eltern dich dorthin geschickt haben und mach das Beste daraus. Hey, und vergiss Spanien, das wird nicht mal halb so toll, wenn du nicht dabei bist! Vermiss dich ganz fest!
Marie, die immer die Vernünftigste unter uns vieren war, meldete sich: Hör nicht auf Shona!! Du musst schon aufpassen, mit welchen wilden Typen du da rumhängst! Und bau auf keinen Fall irgendeine Scheisse! Hast du verstanden? Reiss dich zusammen und mach nicht noch mehr Ärger .
Ich schüttelte nur den Kopf und lachte, dann antwortete ich: Mädels entspannt euch, okay. Ich werde schon nicht eine Bank ausrauben und mit wildfremden Typen ins Bett steigen! Ich habe ja nur gesagt, er ist total cool. Ich meine, er sieht schon echt gut aus, aber er ist erstens zu gross und zu schlank, und er ist einfach ein netter Kerl, versteht ihr?! Ihr seid ja so was von bescheuert. Er ist überhaupt nicht mein Typ, er wäre absolut dein Typ, Lejla! Er sieht aus wie ein Calvin-Klein-Model!!
Lejla meldete sich: Heyy honey bear ♡ Erstens, meine Liebe, habe ich bereits einen Freund. Aber schick mal ein Foto von diesem Liam ☺ Hahaha … Geniess deine Zeit dort, weit weg von allem!! Entspann dich, erhol dich und finde deine innere Mitte ☺ Das wird bestimmt toll! Lerne neue Leute kennen … mach das Beste draus! Shona hat ganz Recht!! Sieh es als ein Abenteuer und nicht als eine Bestrafung. Ich meine, deine Eltern sind ja nicht da, und deine Tante scheint ziemlich locker drauf zu sein. Von dem her stimme ich Shona absolut zu. Lass es krachen, Süsse!
Immer vernünftig bleiben! Und lass dich ja nicht einlochen!! Die haben da ganz andere Regeln! , meldete sich Marie.
Jajaja, ich bau schon keine Scheisse. Obwohl das mach ich eigentlich immer, aber vielleicht gelingt es mir ja ausnahmsweise einmal vernünftig zu sein , schrieb ich zurück.
Samira!, ich meine es ernst! Ich mache mir Sorgen um dich , schrieb Marie.
Was soll das? Bin ich 9 oder was? Ich kann ganz gut alleine klar kommen. Es bleibt mir hier nicht viel anderes übrig. Ich werde schon aufpassen … viel schlimmer kann mein Leben ja nicht mehr werden. Weisst du was, vielleicht haue ich einfach ab und gehe nach New York .
Samira, es tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint. Ich mache mir einfach Sorgen um dich. Pass auf dich auf! Versprich es! Und halte uns auf dem laufendem! Ja? , antwortete Marie.
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