Nora Brägger
Das Rascheln des Präriegrases
Nora Brägger
Das Rascheln des Präriegrases
Roman
orte Verlag
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Satz: orte Verlag, Schwellbrunn
ISBN 978-3-85830-220-5
ISBN eBook 978-3-85830-227-4
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Da stand ich, vor dem Eingang des Flughafens von Rapid City, einer der grössten Städte des US-Bundesstaates South Dakota.
Die Hitze erdrückte mich fast. Die Sonne blendete mich, und so hielt ich die Hand schützend vor die Augen. Ich sah mich nach einem Schattenplatz um und ging schliesslich zu einer Baumgruppe, stellte meine grosse Reisetasche, meinen Rucksack und meinen Koffer ab. Als ich endlich freie Hände hatte, zog ich mein Sweatshirt aus und krempelte die Hosenbeine meiner langen, engen Jeans hoch. Im Flugzeug und in der Flughafenhalle war es unterkühlt gewesen, dass ich richtig gefröstelt hatte. Hier draussen brannte die Sonne. Die Bäume waren vertrocknet, dass sie kaum Blätter trugen und keinen grossen Schatten spendeten. Aber etwas Besseres gab es nicht. So setzte ich mich erschöpft unter den Baum und lehnte mich an den Stamm. In meiner Tasche kramte ich nach meiner Wasserflasche, dem Deo, der Sonnenbrille und dem iPod.
Na toll, es hatte gerade noch drei Schlucke Wasser in der Flasche. Gierig liess ich das Wasser in meine trockene Kehle rinnen. Ich hielt die Flasche so lange senkrecht über meinen Mund, bis auch der allerletzte Tropfen hinein gefallen war.
Ich schaute mich um: ein paar vereinzelte, vertrocknete Sträucher, eine Strasse, ein paar Autos. Weiter hinten waren wohl Parkplätze, sonst konnte ich nichts erkennen.
Die wenigen Leute, die vorher noch hier waren, hatten sich aus dem Staub gemacht. Weit und breit keine Spur von meiner Tante. Das fing schon gut an. Ich seufzte tief, setzte meine Headphones auf und lehnte mich zurück.
Was machte ich hier? Wo war meine Tante? Hatte sie mich vergessen?
Ich scrollte durch die Playlisten, bis ich zu Ultimativ Favorites kam. Ich brauchte jetzt die Power meiner Lieblingskünstler, damit ich nicht ganz in einem stickigen, dunklen Loch versank. Als der erste Beat des Songs Pulses von Karmin ertönte, schloss ich die Augen und liess mich von der Musik forttragen. Ich war zu müde, um mir länger Gedanken zu machen. Ich vergass, wo ich war und was mich erwartete. Ich summte leise mit und träumte vor mich hin.
Eine Hand berührte mich plötzlich an der Schulter, und ich sprang erschrocken auf. Ein junger Mann stand mir gegenüber und sah mich amüsiert an. Ich musterte ihn skeptisch.
Ich setzte meine Headphones ab und schaute ihn böse an: «Was sollte das? Wolltest du mir meinen iPod klauen? Verschwinde und lass mich in Frieden.»
Der Mann schaute mich stirnrunzelnd an, und ich bemerkte, dass ich deutsch gesprochen hatte. Wir waren hier in Amerika. Ich musste englisch reden, und so wiederholte ich meinen Satz, ohne lange nachzudenken, auf Englisch. Doch der Mann machte keine Anstalten zu gehen. Er machte einen Schritt auf mich zu, weshalb ich ihn böse anfunkelte. Gerade wollte ich etwas erwidern, da sagte er mit einer ruhigen Stimme: «Bist du Samira? Ich bin Liam, und ich soll die Schweizer Nichte von Julia Blackfooth am Flughafen abholen. Da niemand ausser dir hier ist, nehme ich an, dass du diejenige bist, richtig?»
«Ja.» Ich musterte Liam von Kopf bis Fuss.
«Es tut mir leid, wenn ich dich vorher erschreckt habe, das wollte ich nicht.»
«Ist schon okay.»
«Na gut, lass uns dein Gepäck in den Wagen laden.»
Ich warf mir nach kurzem Zögern den Rucksack über die Schulter und folgte Liam, der mein restliches Gepäck trug. Der Wagen entpuppte sich als eine ziemliche Schrottkiste. Liam hatte wohl meine zweifelnden Blicke gesehen, denn er schmunzelte: «Keine Sorge, die Kiste hält. Sie gehört einem Freund von mir. Er ist Mechaniker.»
«Okay, wenn du meinst», erwiderte ich achselzuckend und setzte mich auf den Beifahrersitz. Ich war zu müde, um darüber nachzudenken, ob ich ihm vertrauen sollte oder nicht. Da sass ich neben diesem fremden Mann, von dem ich nur wusste, dass er Liam hiess und von meiner Tante geschickt worden war, um mich abzuholen. Wieso hatte mich meine Tante nicht selbst abgeholt? Ich wollte Liam danach fragen, doch ich liess es bleiben. Was spielte es für eine Rolle, wer mich abholte? Nichts spielte mehr eine Rolle. In der Verbannung war ich so oder so.
Liam startete den Motor und ein gurgelndes Geräusch ertönte, bis der alte Truck holpernd ansprang.
Ich schaute aus dem Fenster und betrachtete die karge Landschaft, die an uns vorbeizog. Am Anfang gab ich mir alle Mühe, nicht interessiert zu wirken, doch die Neugier packte mich, und ich betrachtete Liam verstohlen.
«Nun erzähl mal! Wieso verschlägt es dich hierher ins Pine-Ridge Indianerreservat?
Ich hatte mir Tausende von Varianten ausgedacht, die erklären würden, warum ich hier gelandet bin. Nun wusste ich nicht, wie ich es formulieren sollte. «Das ist eine gute Frage. Ich weiss es nicht», murmelte ich nachdenklich.
«Wirklich, es muss doch irgendeinen Grund geben. Du hast deine Koffer bestimmt nicht freiwillig gepackt und beschlossen: So, jetzt gehe ich in eines der ärmsten Indianerreservate von ganz Amerika.»
«Richtig. Ich bin nicht freiwillig hier, und ich wäre jetzt lieber im Flugzeug nach Spanien mit meinen Freundinnen.»
«Ah, Spanien. Und warum bist du trotzdem hier?»
Diese Frage war mir unangenehm. Der Typ ging mir mächtig auf den Keks. Merkte er nicht, dass ich nicht darüber reden wollte? Ich schwieg.
«Okay, ich habe verstanden, du willst nicht darüber sprechen. Macht nichts, früher oder später werde ich es erfahren.»
«Bist du sicher?»
«Ja.»
«Wenn du meinst.»
«Ich habe eine Idee: Wie wäre es, wenn wir uns gegenseitig fünf Fragen stellen? Ich verspreche dir, dass ich dich danach in Ruhe lasse.»
«Jetzt wirklich? Du willst daraus ein Spiel machen?»
«Du darfst beginnen.»
«Ach, wie grosszügig von dir», sagte ich und stellte die erste Frage: «Wie alt bist du, und was machst du den ganzen Tag?»
«Ich bin neunzehn Jahre alt und habe vor drei Wochen die Schule abgeschlossen. Im Herbst werde ich studieren. Ich will Lehrer werden. Im Moment bin ich ein freier Mann und geniesse das.»
«Okay, ich fasse zusammen: Du hast die Schule mit neunzehn Jahren abgeschlossen, ich mit siebzehn Jahren, das heisst, ich bin dir zwei Jahre voraus. Und ich glaube es kaum, aber du bist bereit, nochmals für die nächsten fünfzig Jahre deines Lebens in die Schule zu gehen?»
«Ja, genau.»
«Meine zweite Frage wäre: Wieso …»
«Halt, stopp», unterbrach Liam mich: «Du hast bereits zwei Fragen gestellt, du kommst jetzt zur dritten.»
«Na gut. Wieso willst du Lehrer werden?»
«Ich mag Kinder, und ich will etwas verändern. Und der Schlüssel für eine Veränderung des Lebens im Reservat ist eine bessere Zukunft für die Jugend. Ohne Schulbildung hat man keine Chance, einen guten Job zu bekommen, und ich will den Kindern helfen, für eine bessere Zukunft zu kämpfen.»
Ich war beeindruckt von ihm, und ich konnte spüren, dass er mit voller Überzeugung hinter seinen Plänen stand. «Könntest du dir nicht vorstellen, von hier wegzugehen, um anderswo ein besseres Leben zu beginnen?»
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