«Mach dir keinen Kopf. Du bist ganz in Ordnung, glaube ich zumindest.»
Erleichtert erwiderte ich: «Danke, du auch. Ich könnte allerdings eine Ablenkung gebrauchen.»
Liam dachte kurz nach und meinte: «Ich werde dir noch eine letzte Frage stellen.»
«Nein! Bitte nicht! Hör auf mit diesem blöden Fragespiel.»
«Du weisst ja nicht, was ich dich fragen werde!»
«Ich höre.»
«Welche drei Dinge würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?» Er grinste zu mir herüber, und mein Mund verzog sich zu einem Lächeln. «Ich denke, ich würde meine drei besten Freundinnen, meine Kamera und meinen iPod mitnehmen.»
«Du fotografierst gerne?»
«Hey, das war die letzte Frage!» Ich lachte über mein gespieltes Entsetzen. Stoppte aber irritiert, als ich bemerkte, wie viel ich gelacht hatte. Seit ich mit Liam unterwegs war, hatte ich so viel gelacht, wie schon lange nicht mehr. Oder täuschte ich mich? Egal, ich liess meine Grübelei bleiben.
«Ja, ich fotografiere viel und gern. Meine Kamera ist immer griffbereit.» Ich zwinkerte verschwörerisch, griff in meine Tasche und machte schnell ein paar Schnappschüsse von Liam. Er schaute mich zuerst überrascht an, dann blickte er wieder gelassen auf die Strasse.
«Wie wäre es mit einem kurzen Halt bei der nächsten Tankstelle? Ich muss noch tanken, und wenn du willst, kannst du dir etwas zu essen kaufen.»
Schon bald leuchtete ein grelles Schild auf, das eine Tankstelle mitten in der Pampa anzeigte. Während Liam tankte, ging ich in den kleinen Shop und sah mich nach etwas Essbarem um. Die Auswahl war klein. Ich fand eine Packung Chips und eine Flasche Coke. Unglaublich, es gab wirklich kein Wasser! Nur Süssgetränke, Süssigkeiten und Fast Food. Ich hatte furchtbaren Durst und ich hätte jetzt liebend gern ein eisgekühltes Wasser gehabt, doch ich musste mich mit der zuckersüssen Coke zufrieden geben. Ich lief zu Liam zurück, der immer noch am Tanken war, nahm ein paar Schlucke von der Coke und streckte ihm die Flasche fragend entgegen. Er schüttelte angewidert den Kopf.
«Es gibt kein Wasser!»
«Ich weiss. Aber da habe ich lieber Durst, als diese schreckliche Zuckerbrühe zu trinken!»
Ich schwang mich auf die Haube und wollte mir eine Zigarette anzuzünden.
«Du rauchst? Aber doch nicht hier!», sagte Liam entrüstet.
«Ja, na und? Hast du etwas dagegen?»
«Ja!»
«Ach, komm mir jetzt bitte nicht mit: Das schadet deiner Gesundheit!»
«Genau mit dem komme ich. Es stimmt ja auch. Wieso rauchst du? Du hast es nicht nötig, und vor allem rauche nicht hier bei einer Tankstelle. Das ist sehr gefährlich!»
«Das ist eine gute Frage: Wieso rauche ich eigentlich?», ich tat, als würde ich nachdenken.
«Samira! Im Ernst jetzt, warum?»
«Weil es mir ein gutes Gefühl gibt.»
«Ein gutes Gefühl? Das verstehe ich nicht. Kannst du das näher beschreiben?»
«Hast du überhaupt einmal eine geraucht?»
«Ja.»
«Okay. Naja, dann kennst du ja das Feeling.»
«Ich mag es nicht.»
Ich zuckte mit den Schultern, schwang mich von der Haube und zündete mir provokativ eine Zigarette an. Liam stieg auf den Fahrersitz und startete den Motor. Die Hand mit der Zigarette hielt ich aus dem Fenster und blies den Rauch aus dem Auto, ich schaute Liam an und fragte: «Ist das okay so?»
«Naja.»
«Ich nehme an, das war ein Ja. Schön, wir konnten uns einigen.» Ich schmunzelte und sah aus den Augenwinkeln, dass Liam lächelte.
Wir setzten unseren Weg durch die endlose Weite der Prärie fort. Die Sonne war längst am Horizont verschwunden, und es wurde schnell dunkel.
Ich dachte an meine Tante. Ich kannte sie eigentlich nicht. Ich hatte sie ein paar Mal gesehen, doch das letzte Mal war schon lange her. Ich konnte mich kaum an sie erinnern. Ich hatte in den Fotoalben meiner Mutter ein Foto von ihr gesucht, bevor ich abgereist war. Ich nahm ein kleines Papierstück aus meiner Hosentasche, faltete es auseinander und betrachtete eine junge Frau, die mich abenteuerlustig und voller Energie anschaute. Sie stand auf einem Hügel, hatte die Arme ausgebreitet und strahlte über das ganze Gesicht. Auf dem Rücken trug sie einen grossen Tramperrucksack, der Wind wehte ihr die langen braunen Haare ins Gesicht und hinter ihr breitete sich eine weite karge Landschaft aus. Ich fuhr über das Foto, drehte es um und versuchte, die unleserliche Schrift zu entziffern. Pine Ridge Indian Reservation 1999.
Da war Tante Jul etwa fünfundzwanzig Jahre alt und ich gerade mal drei. Das war ein Drama gewesen. Als Jul alleine nach Amerika in ein Indianerreservat reiste und sich in einen Indianer verliebte und nicht mehr zurückkam. Ihre Eltern waren schockiert, doch sie konnten nichts machen. Jul hatte ihre grosse Liebe und ihre Heimat gefunden. Sie blieb dort und ist seither nur für ein, zwei Besuche nach Hause zurückgekehrt. Ihre Eltern unterstützten sie von da an nicht mehr, doch Jul hatte die Ausbildung zur Lehrerin in der Schweiz abgeschlossen und fand hier Arbeit. Sie heiratete Bill, bekam drei Kinder und lebte auf einem Hof inmitten der Prärie. Das war alles, was ich wusste.
Ich hatte sie immer heimlich bewundert, dass sie ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatte, um sich in einer ganz anderen Welt niederzulassen. Ich bewunderte sie für ihren Mut und die Kraft, sich ihrer Familie zu widersetzen, um ihren Traum zu leben und nicht nach den Vorstellungen der Eltern. Meine Mutter, ihre ältere Schwester, hatte diese Entscheidung nie verstanden. Aber ich glaube, insgeheim bewunderte sie ihre kleine Schwester ebenfalls, aber würde es nie zugeben.
«Zeig mal! Wer ist das auf dem Foto?», fragte Liam.
«Ich muss dich leider enttäuschen, wenn du gedacht hast, es wäre mein Freund. Es ist Tante Jul.»
Liam betrachtete die Fotografie. «Eine eindrucksvolle Aufnahme!»
«Ja, das war 1999, als sie das erste Mal im Reservat war.»
«Deine Tante ist schon lange hier. Womöglich kennt sie das Leben hier besser als ich.»
«Hat sie sich sehr verändert?»
«Was?»
«Ich meine Tante Jul von diesem Foto zu heute?»
«Ach so. Nein, ich denke nicht. Ich meine, klar hat sie sich verändert, aber sie ist immer noch die Gleiche geblieben. Sie ist eine wirklich tolle Frau!»
«Hmmm …»
«Du musst dir keine Sorgen machen. Du wirst sie mögen, und sie wird dich mögen. Alle freuen sich auf dich!»
«Wenn du meinst.» So schnell konnte mich Liam nicht überzeugen. Meine Gedanken schwirrten zurück in die Schweiz.
Es ging mir einfach nicht in den Kopf, wieso meine Eltern mich zu Tante Jul schickten. Sie verstanden sich überhaupt nicht. Meine Mutter hatte praktisch keinen Kontakt mehr zu ihr, oder täuschte ich mich? Vielleicht dachten sie, ich passe gut hier her, weil ich auch so ein komischer Vogel sei. Vielleicht war Tante Jul die Einzige, die mich noch nicht aufgegeben hatte. Sollte ich mich darüber freuen?
Was machte ich bloss hier? Ich sass in diesem verfluchten Truck, weit weg von zu Hause, von meinen Freunden, auf dem Highway Richtung Nirgendwo. Was sollte ich hier draussen? Das war die absolute Verbannung. Was würde aus mir werden? Aus meinem Leben? Nein, nein, nein, ich würde jetzt nicht in Selbstmitleid zerfliessen, das kam nicht in Frage. Ich hatte das alles tausendmal durchgekaut. Jetzt war Schluss, ich würde das Beste daraus machen! Liam war locker drauf, und das würde bestimmt toll werden. Ich würde neue Leute kennenlernen, und verdammt noch mal: Jetzt sollte ich mich zusammenreissen! Meine Vernunft war scheinbar noch vorhanden und bewahrte mich vor dem ultimativen Tiefpunkt.
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