Jaaa, ist schon okay. Ich weiss zwar nicht, was in diesem Kaff hier passieren soll, aber ich werde euch auf dem Laufenden halten, so wie ihr mich!! Ich gehe jetzt schlafen . Ich schaltete das Handy aus, ohne die Nachricht von meinen Eltern zu lesen, geschweige denn ihnen zu antworten und legte es auf den Nachttisch.
Was denken meine Eltern sich bloss? Ich werde ihnen ganz sicher nicht zurückschreiben. So schnell werde ich ihnen nicht verzeihen. Obwohl, vielleicht haben die Mädels ja wirklich Recht und ich sollte diesen Aufenthalt nicht als Bestrafung, sondern als Abenteuer sehen. Im Moment war ich wütend und deprimiert.
Ich wusste, ich konnte mich nicht ewig in meinem Zimmer verkriechen, ich würde mir selber auf die Nerven gehen, und irgendwann würde mich die Neugier packen. Dafür war ich ein viel zu vorwitziger Mensch. Aber jetzt war ich wütend, wollte wütend sein, und ich wollte nicht positiv nach vorne sehen. Das war natürlich total idiotisch, und ich machte mir so selber die Laune zur Sau und das Leben schwer.
Ich begann meine Sachen auszupacken. Ich hatte zu viele Kleider dabei und fand kaum Platz im Schrank. Ich pinnte ein paar Fotos von meinen Freunden und meine Lieblingsschüsse an die Wand. Meine Spiegelreflexkamera war ein älteres Modell, aber genau deswegen mochte ich sie so sehr. Morgen werde ich auf Fototour gehen, beschloss ich. Ich stellte ein Foto von mir mit meinen Freundinnen, das ich in einem Rahmen mitgenommen hatte, auf den Nachttisch. Es war vom letzten Sommer in Nizza. Es war der beste Sommer überhaupt gewesen. Strand, Sommer, Sonne, Mädels, Partys, heisse Jungs, … es war genial! Ich war total versunken in meinen Erinnerungen, als es an meiner Türe klopfte. Ich drehte mich erschrocken um: «Ja?»
«Ich bin es: Jul.»
«Komm herein.»
Meine Tante trat in mein Zimmer und schaute sich um. Es herrschte ein gewaltiges Chaos. Sie schmunzelte und meinte: «Em, Samira, ich wollte mit dir noch deinen Tagesablauf besprechen. Ich meine, du bist ja nicht hier, um Ferien zu machen, sondern um uns zu unterstützen.»
«Ja?», fragte ich skeptisch, denn ich ahnte Schlimmes.
«Keine Sorge, Samira, es ist halb so schlimm. Ich werde von dir nicht verlangen, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen, um die Pferde zu füttern, aber wir sind alle froh um zwei Hände mehr. Wir sind nicht in der Schweiz, hier ist alles anders, hier muss man hart arbeiten, wenn man über die Runden kommen will. Uns geht es sehr gut dank meiner Festanstellung an der High School und unseren Bisons. Bill leitet eine kleine Handwerkergruppe, die im Reservat, aber auch ausserhalb Aufträge erledigt.»
«Jaja, ich verstehe, was du meinst. Also, was muss ich tun?»
«Ich dachte mir, wir schauen Tag für Tag, was es zu tun gibt. Das ist am einfachsten. Grundsätzlich ist Bill mit dem Truck unterwegs, um Aufträge auszuführen. Ab und zu muss er nach den Bisons sehen. Da im Moment Ferien sind, arbeite ich nicht, und die Kinder gehen nicht zur Schule, somit ist es nicht so stressig.»
«Okay», erwiderte ich ungeduldig. Hier ist das Leben anders als zu Hause, das muss man mir nicht erklären. Kann sie nicht auf den Punkt kommen und geradeheraus sagen, was ich machen muss?
«Morgen früh muss man dringend den Garten pflegen. Beginnen wir um halb sieben, dann ist es noch nicht zu heiss. Okay?»
«Ja, das ist gut.»
«Super, vielen Dank!»
Ich wendete mich ab und nahm noch mehr Aufnahmen aus meiner Mappe, die ich an die Wand pinnen wollte. Jul wendete sich interessiert zu mir: «Kann ich mal sehen?»
«Ja, klar», antwortete ich und zeigte ihr die Bilder.
Sie war begeistert und meinte, ich hätte grosses Talent. Naja, das hatten mir schon viele gesagt, nur meine Eltern nicht, und genau von ihnen hätte ich gehofft, dass sie stolz auf mich wären.
Jul hob mit einer Hand mein Gesicht und meinte: «Samira, sei nicht traurig, ja? Du bist eine wunderbare, junge Frau, und du hast wirklich Talent, das sind richtig gute Fotos!»
Nach kurzem Zögern fuhr sie weiter: «Weisst du, ich bin nicht ohne Grund von zu Hause weggegangen. Ich hielt es zu Hause nicht mehr aus, und da ich eine Rebellin war, im Gegensatz zu deiner Mutter, packte ich meine sieben Sachen und machte einen Trip quer durch die USA und blieb hier hängen. Ich habe es noch keinen einzigen Tag bereut. Du kannst jetzt bestimmt nicht verstehen, was an diesem Land so besonders sein soll. Aber ich bin mir sicher, eines Tages wirst du das verstehen. Die Zeit wird wie im Flug vorbeigehen, glaub mir, und etwas Abstand von deiner Familie schadet bestimmt nicht.»
«Nein. Aber es ist unfair, dass sie mich hierhergeschickt haben. Wieso hast du bloss Ja gesagt?»
«Ach, Samira. Es tut mir leid, glaub mir. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie deine Mutter sein kann, aber sie liebt dich, vergiss das nicht. Deine Eltern wollen nur das Beste für dich.»
«Nur das Beste für mich? Soll das ein Scherz sein?»
«Lass dir etwas Zeit, sei bereit zu vergeben und offen für Neues. Sonst machst du dir das Leben selber schwer.»
«Du klingst schon fast wie meine Mutter», sagte ich mürrisch, doch meine Tante liess sich nicht provozieren.
«Lass dir Zeit. Das kommt schon wieder gut.»
«Hmm … natürlich», erwiderte ich sarkastisch und dachte: Wieso belehrst du mich, wenn du es selber nicht besser kannst? Ich soll bereit sein zu vergeben und mich versöhnen. Wer ist von zu Hause weggelaufen und hat seither kaum mehr mit seiner eigenen Familie geredet?
Jul erwiderte, als wüsste sie, was ich gerade gedacht hatte: «Ich weiss, ich muss nichts sagen, weil ich es selbst nicht auf die Reihe bekam. Aber ich will, dass du nicht denselben Fehler machst wie ich. Familie bleibt Familie. Glaub mir.»
Ich schaute betrübt zu Boden und wollte alleine sein. Jul stand unschlüssig neben mir. Schliesslich umarmte sie mich herzlich. Zuerst sträubte ich mich dagegen, dann liess ich mich von ihr drücken, und es war ganz in Ordnung.
«Morgen ist ein neuer Tag», sagte Jul optimistisch.
Ich schaute sie an und stellte überrascht fest: «Du hast ja grüne Augen! Nicht so krass wie ich, aber auch grün.» Ich hatte das bisher nicht bemerkt.
«Ja, das habe ich. Du hast die schönsten Augen, die ich je gesehen habe.»
«Wie man es sieht.»
«Gefallen dir deine Augen nicht?»
«Es geht. Sie fallen immer und überall auf, und die Reaktionen mancher Menschen sind komisch. Manche können mir fast nicht in die Augen schauen, sie finden es gruselig, andere erschrecken, wenn ich sie direkt anschaue.»
«Ich finde deine Augen schön. Sie haben eine besondere Kraft und Ausstrahlung.»
«Danke. Es wäre manchmal viel einfacher, nicht immer und überall aufzufallen und ganz normale braune Augen zu haben.»
«Du kannst wirklich zufrieden sein mit dir, genau so, wie du bist.»
«Aber …»
«Da gibt es kein Aber! Niemand ist perfekt. Wenn man akzeptieren kann, was ist, und nicht immer nur das sieht, was einem nicht gefällt, ist man viel glücklicher. Verstehst du? Denk mal darüber nach.» Jul drückte meine Hand: «Ich lasse dich jetzt alleine, schlaf gut und bis morgen früh! Und verschlaf mir nicht!»
«Jaja, gute Nacht.»
Jul war schon aus dem Zimmer und wollte gerade die Türe schliessen, da sagte ich: «Jul?»
Sie steckte den Kopf herein und schaute mich erwartungsvoll an.
«Danke!»
Sie fragte nicht wofür, sondern lächelte und schloss die Tür.
Ich hängte die restlichen Fotografien auf und verstaute meinen Kram. Irgendwie fühlte ich mich ganz gut. Ich hatte das Gefühl, Jul verstehe mich. Das zu wissen, beruhigte mich und gab mir Kraft.
Ich schaute überrascht in den Spiegel über der Kommode. Ich betrachtete mein Spiegelbild und dachte an Juls Worte. Momentan war ich ganz zufrieden mit meinem Aussehen, aber mit mir im Ganzen? Das Aussehen ist nur ein Teil von mir, der viel grössere ist in mir drin, und dort herrscht ein Riesenchaos. Ich seufzte, nahm meine Zigarettenpackung und kletterte aus dem Fenster auf das Verandadach. Ich setzte mich, lehnte mit dem Rücken gegen die Hauswand und zündete mir eine Zigarette an. Ich schmunzelte, als ich mich an die Diskussion mit Liam erinnerte. Naja, was soll’s. Ich wusste genau, es wäre besser, wenn ich nicht rauchte, doch ich liebte dieses Ritual. Ich rauchte jeden Tag drei Zigaretten. Wenn ich Stress hatte waren es mehr. Das gab ich zu. Ich hatte mir diese Grenze gesetzt, die ich meistens einhielt. Und so konnte ich mich jeden Tag auf drei Zigaretten freuen und sie in vollen Zügen geniessen. Zu viele junge Leute rauchten heutzutage, und ich gehörte dazu. Es war nicht gesund, es konnte Krebs verursachen, doch daran dachte man nicht, wenn man es tat. Wieso auch? Man konnte auch krank werden oder sterben, wenn man gesund lebte. Das Leben war unberechenbar. Das wusste ich. Also wieso sollte ich auf diese kleine Freude verzichten?
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