1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 «Was haben die gesagt? Was war so unglaublich lustig?», wollte ich von Bill wissen, doch er schüttelte den Kopf: «Mach dir nichts draus.»
«Ich will es aber wissen.»
«Na gut. Es gibt da eine alte Geschichte über eine Frau, die überirdisch schön war und in den Tiefen des Waldes im Norden lebte. Höchstselten wurde sie gesehen, denn sie war sehr geschickt und schnell. Viele junge Männer versuchten, sie zu finden und um ihre Liebe zu kämpfen. Aber sie hatte ein kaltes Herz und brachte alle um. Ein Blick mit ihren tief grünen Augen genügte, und die Männer starben unter höllischen Schmerzen und zerfielen in Tausende von Blättern, die der Wind davon trug.»
«Okay, und an das glaubt ihr? Das ist nicht dein Ernst?»
«Es ist eine alte Geschichte, die man sich gerne erzählt.»
«Suuper, und jetzt haben alle das Gefühl, ich sei diese grausame, wilde Frau, nur weil ich grüne Augen habe?»
Er lachte: «Nein, natürlich nicht. Mach dir nichts aus diesen zwei Witzbolden.»
Ich verzog den Mund und drehte mich überrascht um, als plötzlich eine ältere Frau die Türe öffnete. Sie begrüsste Bill, und schaute mich freudig überrascht an und meinte: «Oh, hallo meine Liebe, du bist wohl die Nichte aus der Schweiz.»
Ich schaute sie ebenfalls überrascht an und sagte: «Ja, die bin ich. Woher wissen Sie das, Mam?»
Sie und Bill lachten. «Kindchen, hier wissen immer alle sofort den neusten Klatsch.»
Na toll, dachte ich, was wussten sie wohl alles über mich?
Sie führte uns in die Küche. Wir setzten uns an den Küchentisch. Sie schenkte uns Kaffee ein und setzte sich zu uns. Ich schaute sie fragend an, und sie meinte: «Wenn hier mal etwas Spannendes passiert, wissen es sofort alle, darauf kannst du zählen! Und übrigens, Samira, du kannst mich Aaliyah nennen! Ich bin die Mutter von Bill.»
Jetzt, wo sie es sagte, erkannte ich die Ähnlichkeit: Sie hatten dieselben Augen. Wieso war ich nicht vorher draufgekommen?
Bill und Aaliyah besprachen ein paar Dinge, dann verabschiedeten wir uns und fuhren zurück auf die Asphaltstrasse. Wir fuhren etwa zwei Meilen Richtung Norden, bevor wir wieder auf einen kleinen Feldweg einbogen. Nach kurzer Zeit erreichten wir einen alten Schuppen. Zwei Trucks standen davor, und Bill parkte daneben. Dieses Mal blieb ich im Wagen und kramte meine Headphones aus meiner Tasche. Nach einer halben Stunde kam Bill zurück. Er hatte die Ladefläche des Trucks mit Holzlatten und anderen Baumaterialien beladen.
Ich bereute es langsam, mitgegangen zu sein, denn ich fragte mich, was ich hier sollte. Zusehen, wie er mit seiner Mutter Kaffee trinkt und wie er Holzlatten auflädt? Und was nützte es mir, wenn ich wusste, Kyle ist die nächste grössere Stadt, wenn es dort nicht einmal ein Kino, ein Shoppingcenter oder sonstige Freizeitangebote gab? Bill hatte bemerkt, dass ich mich langweilte, und sagte: «Sorry, das hat etwas länger gedauert, als ich dachte. Aber jetzt fahren wir zu meinem Bruder Jim, Liam ist sein Sohn.»
«Oh, okay.» Mein Interesse war geweckt. Liam war also der Cousin von Naomi, Ron und Leon. Das hatte er mir nicht erzählt. Dann war er auch irgendwie mein Cousin, oder etwa nicht? Auf jeden Fall freute ich mich auf ein Wiedersehen mit Liam. Ich mochte ihn sehr und hoffte, er würde mir die Zeit hier etwas erträglicher machen.
Ich schaute aus dem Fenster. Überall entlang der Strasse lagen Dosen und zersplitterte Glasflaschen. Da fiel mir ein farbiger Fleck nahe der Fahrbahn auf, und ich kniff die Augen zusammen, um ihn besser zu sehen. Als wir schon fast vorbeigefahren waren, erkannte ich, was es war: ein geschmücktes kleines Kreuz. Während unserer kurzen Fahrt auf dem Highway sah ich noch zwei weitere Kreuze.
«Bill?»
«Ja?»
«Hier gibt es wohl viele Unfälle?»
«Meinst du wegen den Kreuzen am Wegrand?»
«Ja.»
«Hmm … Hast du auch die vielen Flaschen bemerkt?»
«Ja.»
«Der Alkoholkonsum ist ein grosses Problem, dazu kommt die hohe Selbstmordrate, gerade unter Jugendlichen.»
Mir lief ein Schauer über den Rücken, und ich versuchte, die Bilder in meinem Kopf zu vertreiben. Schweigend fuhren wir weiter. Irgendwann erreichten wir eine Schotterstrasse. Bill hielt den Pick-up an und stieg aus. Ich schaute zu, wie er um das Auto herumging und die Beifahrertür öffnete: «Rutsch rüber! Du kannst jetzt weiterfahren.»
Ich schaute ihn wohl ziemlich verdattert an, denn er lachte. «Du weisst schon, dass ich nicht Autofahren kann?», erwiderte ich stirnrunzelnd.
«Ja klar, darum sollst du es nun lernen, denn ohne Auto ist man hier aufgeschmissen.»
Aufgeregt rutschte ich auf den Fahrersitz. Bill erklärte mir, wie ich den Pick-up zu handhaben hatte, dann lehnte er sich zurück und wartete gespannt, dass ich losfuhr. Ich startete den Motor, hob den Fuss von der Bremse und der Wagen rollte los. Ich war unsicher am Anfang, doch mit der Zeit ging es immer besser, und es machte richtig Spass. Ich war noch nie am Steuer eines Autos gesessen. Ich fuhr einen Pick-up durch die Prärie. Ich schmunzelte. Das war cool.
Wir hielten vor einem neuen Holzhaus, in dem Liam mit seiner Familie wohnte. Ich erkannte dahinter eine Koppel mit Pferden und einen Schuppen. Wir stiegen aus, und ein Hund kam schwanzwedelnd unter der Veranda hervor. Er kläffte mich kurz an, hörte aber auf, als ich in die Hocke ging und ihn meine Hände beschnuppern liess.
Da ging auch schon die Tür auf und eine kräftige Frau um die Vierzig kam heraus. Sie hiess Amelie und war Bills Schwägerin. Sie begrüsste mich herzlich und führte uns ins Haus. Im Wohnzimmer waren zwei Mädchen dabei, zwei helle Hemden mit Perlen zu besticken. Als sie uns sahen, blickten sie neugierig auf und stellten sich als Eboney und Ayana vor. Sie waren Liams jüngere Schwestern. Bill ging mit Amelie in die Küche, und ich setzte mich zu den Mädchen.
Eboney fragte mich: «Weisst du, was ein Powwow ist? Wahrscheinlich nicht, oder?»
«Ich habe schon davon gehört. Ist das ein Tanzfest?»
«Ja. Ein Powwow ist ein Musik- und Tanzfest der Indianer. Für die Weissen sind die Powwows heute in erster Linie ein Abbild der traditionellen Lebensweise der Ureinwohner, der nordamerikanischen Indianer. Für uns bedeuten die Powwows viel mehr. Die Zeremonie des Einzugs in die Tanzarena ist heilig, und beim anschliessenden Tanzen ehrt man die verstorbenen Krieger und Führer unseres Volkes. Solche Feste sind wichtig für uns Indianer. Wir können so unsere Traditionen weiterleben und sie stärken.»
Ayana nickte und hob ihr Hemd hoch: «Schau, wir sind seit Monaten daran, unsere Kleider zu nähen, mit Perlen zu besticken und mit Federn zu verzieren!»
Ich war beeindruckt von diesen wunderschönen Kleidern, die sie selbst genäht hatten. «Eure Kleider sind wunderschön! Vielleicht kann ich ja auch kommen zu diesem Powwow … Jul und Bill gehen bestimmt.»
«Ja klar, sie kommen auch. Bill wird als Tänzer teilnehmen wie jedes Jahr.»
«Genauso wie ich!», sagte plötzlich eine Stimme hinter mir, und ich drehte mich um. Liam lehnte im Türrahmen und grinste mich an. Ich lachte freudig zurück. Sein Grinsen war der Hammer: Er sah aus wie ein zu gross geratener Kobold.
Liam fragte: «Willst du mein Kleid sehen?»
«Ja, gern.»
«Na, dann komm!»
Ich folgte Liam, der am Ende des Gangs eine Tür öffnete. Wir traten in ein kleines Zimmer. Es hatte ein Fenster, davor stand ein Schreibtisch mit einem Stuhl, an der Wand neben der Türe ein Bett, daneben ein Regal, das mit Büchern vollgestopft war. Auf der anderen Seite war ein Kleiderschrank.
«Ist das dein Zimmer?», fragte ich überflüssigerweise, und er nickte.
Er öffnete den Kleiderschrank und nahm vorsichtig ein wunderschön verziertes Hemd hervor. Es war anders als die Kleider seiner Schwestern. Es war sehr bunt mit vielen farbigen Zotteln und Fäden verziert.
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