„Deshalb hat die Kirche die Katharer ausgerottet. Bekannt ist diese Geschichte um ihre letzte Zuflucht in Montsegur im Süden Frankreichs.“
„Ja, Jupp, der Katharismus trat hauptsächlich in Südfrankreich auf. Es gab aber auch Gemeinden in der Lombardei in Norditalien und in Katalonien in Nordspanien. Im sogenannten Albigenserkreuzzug wurde Montsegur in Südfrankreich belagert und um 1244 zerstört. Es hat aber noch viel länger gedauert, bis die Katharer ausgerottet waren. Es gab auch danach noch Festungen und Städte der Katharer, die zerstört wurden. Noch fast 100 Jahre nach der Eroberung von Montsegur bis etwa 1330 verfolgte die Inquisition die Reste der Katharer. Der bekannteste ‚Nach-Montsegur-Katharer‘ wurde 1310 hingerichtet. Die letzten ‚Katharerprozesse‘ endeten erst 1329.“
„Es gab doch diesen Kriminalroman, der dann mit Sean Connery verfilmt worden ist, wo der eigentliche Fall in diese Auseinandersetzungen mit den sogenannten Ketzern eingebettet ist: ‚Der Name der Rose‘“, sagte ich.
„Ja, da kann man auch einiges über die Richtungen der offiziellen Kirche und der sogenannten Ketzerbewegungen erfahren. Ich habe aber alles schön sorgfältig aus den Akten genommen. Als Hintergrundpapier ist da eine gute Aufbereitung enthalten.“ Ihre Stimme war immer trockener geworden und ich hörte, wie sie noch einen tiefen Schluck nahm.
Ich wollte nicht fragen, ob sie Wasser trank oder doch etwas Geistiges, da ich nicht riskieren wollte, die schöne Arbeitsatmosphäre durch Sentimentalitäten zu ruinieren. „Was gibt es dann noch über die Geschichte zu erforschen?“, fragte ich daher skrupellos, da mir das Ganze irgendwie nicht zu einem Paket und einem Ermordeten passen wollte, dessen Ermordung als versehentliche Überdosis Drogen getarnt werden sollte.
„Das ist ja das Interessante. Es gibt über Deinen Verein einen Bericht eines V-Mannes vom nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz“, kam Lina zum Punkt.
Andere hätten die Luft durch die Zähne eingezogen, aber obwohl Lina wusste, ich würde das nicht machen, erwartete sie eine Reaktion. Ich wollte sie nicht noch mehr enttäuschen und fragte deshalb: „Verfassungsschutz?“
„Ja, in den Kreisen Deines Vereines wird von einer Untergrundreligion, die arischen Ursprungs sei, gesprochen. Die Ideen des Gegensatzes zwischen Bösem hier und gutem Jenseits der katharischen Religion sei bereits durch die Kelten und Iberer in Südfrankreich vertreten worden. Das Ganze sei ursprünglich von den Persern übernommen worden. Getragen wurde das dann nach deren Auffassung von den Westgoten, die in Südfrankreich nach der Völkerwanderung siedelten.“
Ich konnte mir das nicht zusammenpuzzeln, es ergab keinen Sinn. „Stuft der V-Mann-Bericht diese Spinner als gewaltbereit ein?“
„Vielleicht sind es Spinner, aber Jupp, ich mache mir Sorgen um Dich. Diese Leute behaupten, die Katharer seien Germanen gewesen, Nachfahren der Westgoten und der Albigenserkreuzzug sei kein Glaubenskrieg gewesen, sondern ein Vernichtungskampf der Juden, die die katholische Kirche korrumpiert hatten, gegen die nordische Rasse. Sie behaupten auch, dass sich daraus die Mission der SS ableiten lasse. Jupp, Du musst sehr vorsichtig sein, das sind Nazis von der ganz üblen Sorte.“
So tat es gut, ihre Stimme zu hören. Sie war gar nicht mehr distanziert und das Flehen darin war echt. Ich wusste, sie war mir nicht mehr böse. „Mach Dir keine Sorgen, Lina. Ich passe gut auf mich auf. Ich will doch noch mit Dir essen, ich habe es doch versprochen“, versuchte ich sie zu beruhigen.
„Ach, Jupp“, erwiderte sie und es war so viel Wärme in ihrer Stimme.
„Also keine Informationen über Gewalttaten?“, versuchte ich es erneut.
„Nein, es hat ein paar Ermittlungen gegeben wegen kleinerer Rangeleien von Mitgliedern, aber alle sind wegen Geringfügigkeit eingestellt worden.“
Da ich sie wieder bei Laune hatte, fragte ich: „Gibt es noch mehr Informationen?“
„Der Verein hat auch eine Expedition nach Tibet organisiert und finanziert. Der V-Mann sagt, mit dieser Expedition habe man nachgewiesen, dass ein Zusammenhang zwischen Buddhismus, den Katharern und der SS nicht bestehe. Diese Richtung gab es wohl, aber es konnte nachgewiesen werden, dass die Vertreter dieser Denkrichtung Scharlatane gewesen seien.“
„Irgendetwas über die Finanzen des Vereins? Expedition hört sich teuer an“, versuchte ich, ein Ende mit einem anderen versuchsweise zu verknüpfen.
„Der Verein hat ein hohes Vermögen. Es gibt Kontenauszüge mit mehreren Millionen Euro Guthaben. Aber es ist nichts darüber bekannt, woher das kommt.“
Wer sich mit solchen Themen beschäftigt, beauftragt vielleicht auch einen Privatdetektiv, ihm sein Drogenpaket wiederzubeschaffen. Vielleicht war ich ja der Spinner, der immer irgendwelchen komplexen Ideen nachjagte, obwohl es doch so einfach sein konnte. „Könnte das mit Drogen zusammenhängen?“
„Darüber lässt sich in der Akte nichts finden. Das könnte aber eine Begründung sein. Ich werde morgen noch einmal gezielt nach Drogen in dem Zusammenhang mit Deinem Verein suchen“, versprach Lina.
„Von wann ist der V-Mann-Bericht und die anderen Informationen?“
„Das ist schon etwa drei Jahre alt. Seitdem nichts mehr, offenbar ist der Verein dann vom Radar der Sicherheitsorgane verschwunden.“
„Irgendetwas über einen Becher, Kelch oder Schale?“
„Ein Becher, nein, das wurde nicht erwähnt. Ich habe Dir alles gesagt, was ich finden konnte.“
Ich hörte sie erschöpft atmen und fragte: „Alles okay, Lina?“
Es war etwas still am anderen Ende der Leitung, dann kam ganz tief vibrierend die Stimme aus der Fülle ihres Körpers: „Was denkst Du, Jupp, wann hast Du es hinter Dir?“
„Bald, Lina, bald“, antwortete ich, aber es gelang mir nicht ganz, die Festigkeit in meine Stimme zu legen, die ich wollte. „Schlaf gut, Lina, ich melde mich.“
„Schlaf gut, Jupp und sei bitte vorsichtig.“
Als ich die Augen öffnete, schwappte mir immer noch im Kopf herum:
‚Ob schwerer nebel in den wäldern hängt
Du sollst im weiterschreiten drum nicht zaudern
Sprich mit den bleichen bildern ohne schaudern
Schon regen sie sich sacht hinangedrängt.
Wenn gras und furche auf dem pfad versteinern
Gehäufter reif die wipfel beugt versteh
Zu lauschen auf der winterwinde weh
Die mit den welken einsamkeiten weinen
So hältst du immer wach die müde stirn
Und gleitest nicht herab von steiler bösche
Ob auch das matt erhellte ziel verlösche
Und über dir das einzige gestirn.‘
Im Kühlschrank war nichts Brauchbares zu finden gewesen und so verursachte der schwarze, starke Kaffee, für den ich auch hier eine Kapselmaschine benutzte, in meinem Bauch ein bitteres Gefühl, von dem ich mich aber nicht unterkriegen ließ. Während ich an meinem Küchentisch saß, ging ich alles noch einmal durch.
Die Theorie ‚Drogen‘ war diejenige, in der die bisherigen Puzzlesteine am besten passten, das musste ich, auch wenn es mir nicht passte, zugeben.
In dieser Hypothese griffen die Katharer-Forscher zur Finanzierung ihrer Aktivitäten auf Drogen zurück, obwohl davon nichts in den Polizei-Akten vermerkt war. Vielleicht lieferte aber Lina dahingehend noch etwas nach. Sie wären dann mit hoher Sicherheit der Absender – nicht der Adressat – des Päckchens und machten sich gerade Sorgen um ihr ‚Eigentum‘. Anton Wewersdorf und seine Combo könnten Komplizen von Eugen Schäfer gewesen sein, was erklären würde, warum Anton nach dem Paket gefragt hatte. Und vielleicht passten die Herren aus Beirut, die ich gestern kennengelernt hatte, als Empfänger ins Bild, wenn ich ein Klischee für bare Münze nähme und eine libanesische Verteilorganisation für Drogen freudig als überzeugend akzeptierte.
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