Er war mir sehr sympathisch und ich nickte ihm ganz leicht zu. Viele Menschen waren nicht bereit, das Richtige zu tun. Sie wollten lieber den einfachen Weg gehen und waren nicht bereit, für ihren Beitrag zum Geschehen die Verantwortung zu tragen. Dieser Mann war damals überzeugt, richtig zu handeln, indem er einen für alle lautlosen Ausweg fand und war auch zu diesem Zeitpunkt überzeugt, das Richtige zu tun. Ich wollte ihm eine Freude machen und sagte deshalb: „Ich verstehe. Eugen Schäfer hatte also überhaupt nichts mit der Sache zu tun.“
„Genau, Eugen Schäfer und auch sein Arbeitskollege Vitali Rau hatten mit der Sache absolut nichts zu tun. Der Notarzt arbeitet nicht mehr für uns.“ Er hatte den Mund geschlossen, sah mich durchdringend an, beleidigt, weil ich ihn beim ersten Mal nicht richtig verstehen wollte.
„Haben Sie das auch so der Polizei gesagt?“
„Ja, genauso.“
„Und was meint die Polizei?“
„Der Mann hat gemeint, er nehme den Bericht natürlich ernst, sonst gebe es diesen ja nicht, aber dass es aus seiner Sicht nicht ausgeschlossen sei, dass es zwar damals keine Drogengeschichte gab, aber jetzt“, beantwortete er meine Frage. Da er mich offenbar für schwer von Begriff hielt, stupste er meine Nase noch einmal auf die Fährte, die klar vor seinen Augen lag: „Der Notarzt arbeitet jetzt nicht mehr für uns.“
Obwohl mir der Geruch der Fährte nicht zusagte, konnte ich nicht mehr anders und nahm seine Worte auf: „Dieser Notarzt, wie heißt der und was macht der jetzt?“
„Dr. Arthur Böcke. Er arbeitet jetzt in Bochum an der IVFS-Klinik für Reproduktionsmedizin“, klärte mich Alliard dankbar auf und ich sah, dass er sich freuen würde, wenn seine Information zur Aufklärung der Vorkommnisse und des Todes von Eugen Schäfer beitragen würde. Er hätte es nicht verwunden, wenn diese Richtung nicht überprüft werden würde und er sich Vorwürfe machen würde, falls er das nicht eindringlich genug gefordert und initiiert hätte.
„Ich denke, ich spreche demnächst mal mit Dr. Böcke.“ Ich würde der Fährte folgen müssen, nicht nur, weil Alliard mir sympathisch war und ich ihn gerne beruhigt sehen wollte, sondern auch weil vieles passte und es dazu noch die einzige konkrete Fährte war, die ich bisher hatte. Aber tatsächlich würde der Beweis, es wären damals entgegen dem Bericht tatsächlich Betäubungsmittel entwendet worden, eher Zweifel an Schäfers Integrität befeuern, jedoch keinesfalls beweisen, dass Schäfer nicht gestern wegen einer Verwicklung in eine Drogengeschichte umgebracht worden war. Ich konnte deshalb die Reaktion des Kommissars, der mit Alliard gesprochen hatte verstehen.
Aber es roch zu stark. Ich tastete daher weiter, in der Hoffnung, vielleicht noch einen etwas anderen Geruch aufnehmen zu können: „Hatte Eugen Schäfer irgendwelche Konflikte mit Arbeitskollegen?“
Er überlegte etwas und ihm war anzusehen, er versuchte wirklich zu helfen. Er schüttelte dann den Kopf: „Nein, Herr Schäfer war sehr beliebt bei seinen Arbeitskollegen. Er war so hilfsbereit und zuvorkommend. Ich denke nicht, dass es da irgendetwas gab.“
Irgendwelche Anhaltspunkte für unzufriedene Patienten konnte ich mir nicht denken und mir eigentlich auch nicht vorstellen, ein mit Blaulicht Abtransportierter fände die Umgangsformen eines Rettungssanitäters unangemessen. Trotzdem musste ich auch hier sicher gehen: „Irgendwelche Probleme mit Patienten? Oder mit Angehörigen, die Eugen Schäfer für eine unsachgemäße Behandlung bei einem Einsatz verantwortlich machten?“
„Nein, es gab keine Beschwerden. Es war alles in Ordnung.“ Er seufzte und es war ehrlich gemeint: „Ich kann leider nicht wirklich weiterhelfen. Das will ich wirklich gerne, aber es gibt außer dieser BTM-Sache mit dem ehemaligen Notarzt nichts, was Ihnen oder der Familie weiterhelfen kann.“ Er sah mich hilflos an.
Ich war ohne Zweifel, nicht mehr erreichen zu können, auch wenn ich noch weitere Fragen stellte. Ich stand daher auf und verabschiedete mich mit den Worten: „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an. Ich danke Ihnen sehr.“
„Ja, wenn mir noch etwas einfällt, melde ich mich sofort“, sagte er eifrig, „Danke und auf Wiedersehen.“ In seinen Augen standen Aufrichtigkeit und Dankbarkeit.
Unzufrieden und stark verspannt machte ich mich auf den Heimweg. Es war schon dämmerig und der Verkehr rann träge dahin, alles war schon in Erwartung der Abendstille. Die Laternen konnten die Trostlosigkeit nicht vertreiben und die Menschen drängelten sich nah an den Hauswänden vorbei. Im Autoradio hatten sie einen Stau auf der A 40 zwischen Stadion und Werne gemeldet, sodass ich einen Umweg machen musste. Als ich die Hauptstraße Richtung Lütgendortmund hinauffuhr, klingelte das Telefon.
„Jupp, Du musst noch einmal bei uns vorbeikommen“, klang die Stimme von Dietrich Dörner durch die Freisprechanlage. Er klang nicht aufgeregt, fordernd war wahrscheinlich die richtige Beschreibung.
Für heute war ich es leid, herumgeschubst zu werden, deshalb erwiderte ich „Dietrich, ich mache das direkt morgen früh, wann passt es am besten?“
„Ich denke, Du schaffst es heute noch, Hauptkommissar Onhoven möchte mit Dir sprechen. Ich habe Dir gesagt, dass das LKA eine Mordkommission eingerichtet hat und er leitet die Ermittlungen. Wann bist Du also hier?“
Manchmal war es besser, einen Kampf nicht zu kämpfen, sondern auf einen anderen Zeitpunkt zu warten. Dieses Gefühl hatte ich in dem Moment und sagte deshalb zu: „Es dauert wohl eine halbe Stunde. Ich komme direkt in Dein Büro, sag' der Zentrale Bescheid.“
Auf dem Ruhrschnellweg ging es so schnell wie erwartet und vom vielen Kupplung treten schmerzte mir die Wade. Am Stadion fuhr ich ab. Der Stadtpark kontrastierte schwarz zu dem grauen Himmel und irgendwie wirkten die wenigen Passanten unangemessen.
Das Bochumer Polizeipräsidium war eindrucksvoll, und das nicht nur für Menschen, die sich nicht ganz sicher waren, ob sie auf der richtigen Seite standen. Durch den Eckturm und über Flure, auf denen Rollschuhwettbewerbe sicher eine würdige Bahn gefunden hätten, erreichte ich das Büro von Hauptkommissar Dietrich Dörner.
Er war mit einem hageren, schmalen Mann, der eine faltige Gesichtshaut hatte und einer ebenso hageren Blondine im Gespräch, als ich nach einem Klopfen die Tür öffnete. Der Hagere war schon weit über fünfzig, trug einen ausgebeulten Anzug, der ihm zu groß schien und dessen Hose an den Oberschenkeln schon glänzte, und dazu breite, bequeme Schuhe. Sein weißes Hemd war zerknittert, seine Hände noch faltiger als sein Gesicht und ich hatte den Eindruck, dass er beim Bewegen knisterte. Wahrscheinlich war er nicht geschmeidig genug und das der Grund, warum er den Weg in den höheren Polizeidienst immer verpasst hatte und deshalb immer noch Hauptkommissar war. Die Frau hatte hochstehende Wangenknochen über denen die Haut spannte. Ihr Hosenanzug hätte genauso zu einem Konfirmanden gepasst. Ganz deutlich zeichnete sich ihr Holster an der Hüfte ab und war das Einzige, was aus Ihrer Flachheit hervorstach. Sie war höchstens fünfunddreißig und die flachen Schuhe, geschnürt und mit einer Gummisohle, verrieten ihren aufdringlichen Ehrgeiz. Wahrscheinlich würde sie aufgesetzt lächeln, während sie dazu gekonnt nach unten trat. Auf ihrem Kinn spielte ein niedriger Schatten.
„Ah, Jupp, die Maske brauchst Du hier nicht, wir sind alle gesund. Aber bitte setz‘ Dich doch. Das sind Hauptkommissar Peter Onhoven und Kommissarin Blaire Bertes vom LKA“, begrüßte mich Dietrich Dörner mit gespielt gleichgültiger Jovialität. Er trug an jenem Tag auch wieder von ihm für englisch gehaltene Kleidung. Die braune Hose schlotterte ein wenig, das karierte Hemd hatte auf der Brusttasche ein fulminantes Emblem und überstrahlte das unvermeidliche Tweed Sakko mit seinen Komplementärfarben. „Ich habe die beiden hier aufgenommen und sie fühlen sich sehr wohl“, dabei beschrieb seine Hand eine Bewegung über das eigentümliche Potpourri aus hässlicher Behördenausstattung und den von ihm zugefügten Ausstattungsteilen, ein Konglomerat, das jedes Klischee einer englischen Polizeistation authentisch erscheinen ließ. „Alle fühlen sich im ‚Yard‘ wohl“, lachte er und stellte den Schirm aus grünem Glas an seiner Schreibtischlampe so ein, dass der Kegel die Papiere auf dem Tisch wirkungsvoll beleuchtete.
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