Vom abrupten Themenwechsel überrumpelt, musste Martin erst einen Augenblick nachdenken. «Eine gute Stunde oder mehr», sagte er dann, «kommt auf die Strassenverhältnisse am Julierpass an. Es schneit.»
«Scheissschnee. Ich hasse Schnee, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin. Vielen Dank, dass du so spontan mitkommst, das ist wirklich lieb.» Das i zog sie etwas übertrieben in die Länge. Sie lächelte Martin an, streichelte kurz über seinen linken Arm. Und schwieg einen Moment.
«Erzähl mir die Geschichte mit Joël», forderte Martin sie auf. «Aber die Kurzfassung!»
Myrta gab ihm einen kleinen Schubs: «Schon gut, ich gebe mir Mühe.» Sie räusperte sich. «Also. Ich verdiente während dem Studium Geld als DJ. Joël war Partyfotograf. Wir verliebten uns. Dann entliebten wir uns wieder und wurden Freunde. Richtige Freunde. Wir lebten zusammen in einer WG. Ohne Sex. Als ich dann nach Köln zum Fernsehen ging, blieben wir Freunde. Allerdings hasst Joël Bernd. Er ist überzeugt, dass das nie was wird. Ende. Kurz genug?»
CHESA CASSIAN, PONTRESINA, ENGADIN
«Allegra, Karl», sagte Jachen. «Kann ich dich was fragen?»
«Du, ich bin ein bisschen unter Druck, was gibt es denn?»
Jachen Gianola und Karl Strimer sprachen rätoromanisch miteinander. Sie waren in Samedan zusammen zur Schule gegangen.
«Ist etwas passiert auf der Corviglia oder auf Marguns?»
«Ja, auf der Fuorcla Grischa wurde diese Nacht ein Mann gefunden. Halb erfroren. Liegt jetzt im Spital. War eine schwierige Rettung, weil der Helikopter wegen dem Wetter nicht fliegen konnte. Sieht schlecht aus.»
«Fuorcla Grischa, sagst du?», hakte Jachen nach. Denn auf diesem Pass befindet sich die Bergstation des Sessellifts, den sie am Vorabend nach dem Besuch der Hütte benutzt hatten.
«Ja. Der hatte Glück, dass man ihn überhaupt gefunden hat. Leute, die unten in der Hütte feierten und dann mit diesen Dingern da, diesen Ski-Töffs …»
«Ski-Doos meinst du?»
«Ja, mit diesen Ski-Doos heimfuhren, haben ihn zufällig auf der Piste entdeckt. Ich vermute, der war auch auf dieser Party, obwohl die Retter ihn nicht kennen wollen. Die waren doch alle besoffen. Und der Typ wollte wohl noch skifahren und, ach du weisst ja, wie das heute zu- und hergeht.»
«Ja, ja.»
«Warum fragst du eigentlich?»
«Bin mit Bundesrat Battista unterwegs, deshalb will ich auf Nummer sicher gehen.»
«Kein Problem. Alle Pisten sind wieder frei.»
«Danke, Karl.»
Jachen zupfte an seinen Augenbrauen. Die Situation passte ihm überhaupt nicht. Er war seit 40 Jahren Skilehrer, seit über 30 Jahren unterrichtete er nur private Gäste. Keine Klassen. Er hatte die besten Gäste, die sich ein Skilehrer wünschen konnte. Er verdiente ordentlich Geld, bekam viele Geschenke, feierte mit den Gästen in den nobelsten Lokalen von St. Moritz und wurde von ihnen im Sommer in die ganze Welt eingeladen, inklusive Reisekosten und alles andere. Natürlich gehörten dazu viele Frauen, ältere und jüngere, mittlerweile vor allem ältere. Er hatte zweimal geheiratet, konnte aber nie treu sein.
Einen Politiker wie Luis Battista zu begleiten, brachte finanziell zwar nicht so viel, steigerte aber den Marktwert. Er war schon seit Jahren mit Luis unterwegs, auch als dieser noch nicht Bundesrat gewesen war. Er hatte Battistas Frau Eleonora und den Kindern das Skifahren beigebracht. Battistas waren gute Gäste. Seit er in der Schweizer Regierung sass, hatte er sich verändert, fand Jachen Gianola. Und in diesem Jahr war sowieso alles anders. Eleonora Battista und die Kinder waren nicht da. Sie waren angeblich nach Portugal zu Eleonoras Eltern geflogen. Das hatte ihm Battista wenigstens erzählt. Sei wohl das letzte Weihnachtsfest der Grosseltern, hatte er erklärt. Jachen Gianola glaubte ihm nicht recht, er vermutete eine Ehekrise. Aber er war Profi und hatte keine weiteren Fragen gestellt.
Dann war diese junge Dame aufgetaucht, Karolina. Mit K, nicht mit C. Der Nachname wurde ihm nicht mitgeteilt. Mit ihr kamen die Bluthunde, unangenehme Deutsche wie Dirk. Sie übernahmen das Zepter. Sie hatten ihm klar gemacht, dass er jetzt in ihren Diensten stehe, nicht mehr in jenen von Battista. Luis hatte das Okay dazu gegeben. Massgebend war nun also Karolina. Oder eben dieser Dirk. Jachen vermutete, dass Karolina eine Prinzessin war. Oder sonst irgendeine deutsche Adlige.
Jachen riss sich mehrere graue Härchen aus den Augenbrauen. Dann griff er zum Telefon und rief Luis Battista an: «Allegra, gut geschlafen, Luis?»
«Guten Morgen, Jachen! Ja, herrlich. Wie ist das Wetter?»
«Noch nicht so toll. Soll aber besser werden heute. Gegen Süden hellt es bereits auf. Wäre ein toller Tag für Diavolezza und Lagalb!» Jachen Gianola wusste, dass dies Battistas Lieblingsskigebiete waren. Und dort waren vor allem keine Promis.
«Jachen, Moment mal …» Die Verbindung wurde für etwa 30 Sekunden unterbrochen. «Nein, keine gute Idee. Es bleibt bei 10 Uhr, Talstation der Signal-Bahn!»
«Luis, ich möchte dir noch …»
«Bis dann, okay?»
Weg war er.
«Ich bin bloss Skilehrer», sagte Jachen zu sich selbst. «Also halt dich aus den Angelegenheiten deiner Gäste raus.»
SPITAL SAMEDAN
Die Fahrt über den Julierpass verlief problemlos. Myrta und Martin trafen kurz vor 9 Uhr im Spital Samedan ein und wurden bereits von Karl Strimer erwartet. Der Kantonspolizist informierte sie kurz über die Rettungsaktion, sagte ihnen auch, dass man mittlerweile Joëls Auto an der Talstation in Celerina gefunden und es beim Polizeiposten parkiert habe. Im Auto habe man auch seinen Pass gefunden und sei nun daran, seine Familie ausfindig zu machen. Er erzählte, dass er Joëls Handy dank des iPhone-Akkus seiner Tochter in einer längeren Schraub- und Bastelaktion habe wiederbeleben können und so an ihre Telefonnummer gekommen sei. Myrta ihrerseits klärte Karl Strimer nochmals über ihr Verhältnis zu Joël auf. Obwohl sie offiziell in keinerlei rechtlich relevanten Beziehung zu Joël stand, gab Karl Strimer sein Einverständnis, dass sie Joël kurz besuchen konnte. Martin bemerkte, er sei eigentlich nur Myrtas Chauffeur und warte in der Cafeteria.
Ein ungarischer Arzt, dessen Name Myrta nicht verstand, versuchte, ihr etwas umständlich zu erklären, dass Joëls Zustand nach wie vor kritisch sei. Er habe eine Hypothermie erlitten, eine starke Unterkühlung, der Puls sei kaum noch fühlbar gewesen. Sein Kreislauf sei jetzt aber wieder stabil. Man müsse damit rechnen, dass die Erfrierungen an den Füssen bleibende Schäden hinterliessen. Zudem habe er eine gebrochene Nase und ein verstauchtes Bein.
Schliesslich wurde Myrta zu Joël geführt. Er lag, verkabelt mit mehreren medizinischen Geräten, mit geschlossenen Augen im Bett.
«Oh mein Gott!», hauchte Myrta, ging zu ihm und flüsterte: «Wage es bloss nicht abzukratzen, du Idiot! Irgendwas hast du da oben auf diesem Scheissberg gemacht. Du wolltest mir sagen, was. Also reiss dich zusammen, damit wir die Sache rocken können. Auch wenn mir der Sensenmann erschienen ist, vergiss es, mein Freund, du bleibst gefälligst hier!»
Joëls Gesicht zuckte.
Vielleicht auch nicht. Denn schliesslich war es wegen der gebrochenen Nase fast vollständig von einem Verband bedeckt.
Aber Myrta hatte das Zucken trotzdem gesehen.
TALSTATION SIGNALBAHN, ST. MORITZ
Jachen Gianola sass in seinem warmen Allrad-Audi-A4 und grüsste den Parkwächter, der wie immer eine dicke Fellmütze trug. Der Skilehrer parkierte, nahm die Ski aus dem Dachkoffer und machte sich daran, den einzigen, wirklich unangenehmen Teil seiner Arbeit hinter sich zu bringen: Er zwängte sich in die Skischuhe. In all den Jahren hatte er noch kein Modell gefunden, das bequem und leicht anzuziehen war.
Als er die Schuhe endlich montiert und die ersten Schnallen geschlossen hatte, atmete er tief durch und blinzelte in die Sonne, die gerade durch die dicken Wolken schien. Dann setzte er seine Porsche-Sonnenbrille auf und sagte sich, dass heute ein guter Tag würde. Er stapfte breit grinsend über den Parkplatz, und weil er zu früh war, stattete er «seinen Mädchen», wie er sie nannte, im Sportgeschäft noch einen Besuch ab.
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