Der zehnte Schwung misslang. Battista knallte mit seinen Ski gegen die Felsen, wurde zurückkatapultiert und tauchte kopfvoran Richtung Abhang in den Schnee. Er überschlug sich, rutschte den Hang hinunter und blieb schliesslich an Jachen hängen, der sich ihm gekonnt in den Weg gestellt hatte.
«Alles klar?», fragte Jachen.
«Verdammt nochmal!», fluchte der Bundesrat. «Was für einen Scheisshang schickst du mich runter?»
«He, alles klar, that’s snowsport …», lachte Jachen und liess seine weissen Zähne blitzen.
«Du bist doch einfach ein Arschloch!», zeterte Battista. «Verdammt nochmal, ich bin Bundesrat, ich bin einer der wichtigsten Menschen in diesem Land, was fällt dir eigentlich ein, so einen verdammten Scheiss mit mir …»
«Halt mal die Luft an, Bundesrat, da oben bist du genauso ein ‹Tschumpel› wie ich!»
Jachen half seinem Gast auf die Beine, klopfte ihm den Schnee vom Körper. Dann schwang er den Rest des Hanges, der nun breiter und flacher wurde, elegant hinunter und wartete unten. Luis Battista blieb lange stehen, fuhr dann ziemlich ungelenk hinterher.
«Sorry, Jachen, wollte dich nicht anfauchen.»
«So kenne ich dich wirklich nicht. Früher warst für jeden Spass zu haben. Was ist denn los?»
«Ach, nichts!»
Jachen bemerkte, dass Battistas Knie zitterten. «Mir kannst du nichts vormachen. Geht mich ja nichts an. Aber dass ein Kerl wegen dieser Karolina und ihren Idioten halbtot im Spital liegt, finde ich auch nicht toll.»
«Worüber sprichst du?»
Der Skilehrer erzählte ihm, was er wusste. «Keine Ahnung, was die Kerle mit dem Fotoheini gemacht haben, aber wenn der Typ stirbt, werde ich mit meinem Freund Karl Strimer von der Polizei Tacheles reden.»
Luis Battista umarmte Jachen, ohne noch etwas zu sagen.
Dann fuhr Jachen davon: «Juhuuuuu!»
LEJ DA STAZ, ST. MORITZ
Myrtas iPhone klingelte. Anrufer war der ungarische Arzt. Sie solle sofort ins Spital kommen. Joël sei erwacht, er wolle mit ihr reden. Myrta und Martin kehrten im Laufschritt zurück zum Auto und fuhren zum Spital Samedan. Der Arzt bat Myrta, nur kurz bei Joël zu bleiben, er sei noch sehr schwach. Dann betrat sie das Zimmer und ging zu Joël: «Da bin ich. Was willst du?»
Joël hustete. Röchelte. «Ich habe eine supergeile Hammer-Story», flüsterte er.
«So so», antwortete Myrta gespielt schroff und wechselte dann sofort in einen aufgeregten Ton, der ihrer Stimmung entsprach. «Das interessiert jetzt doch kein Schwein. Was ist passiert? Mein Gott! Du lebst!»
«Ja, schon gut», näselte Joël durch den Verband. «Nimm mein iPhone. Da hat es ein geiles Bild drauf. Kostet dich aber eine Kleinigkeit.»
«Hör auf, Joël. Werd erst mal gesund!»
«Quatsch, spar dir das Geschleime. Nimm das Handy, schau dir das Bild an.»
«Joël bitte, ich sterbe vor Sorge, rase hierher, und du willst mir ein Bild verkaufen.»
«Schau es dir an! Das Handy liegt da.»
«Ja, ich guck gleich.»
Myrta tippte auf den Foto-Ordner und erblickte eine ihr unbekannte junge, hübsche Frau, die Händchen hielt mit einem ihr sehr wohl bekannten mittelalterlichen, gutaussehenden Mann mit süssen Grübchen in den Wangen.
«Der glücklich verheiratete Superpolitiker Luis Battista mit einer kleinen Schlampe … Joël Thommen, das ist wirklich ein geiles Bild. Ein bisschen unscharf, aber das bin ich mir ja gewohnt von dir.»
Sie streichelte ihm über die Wange.
BERGSTATION MARGUNS, CELERINA
Seit 15 Uhr herrschte an der Bar unter dem grossen Zelt Skihütten-Stimmung. Karolina und Floriana tranken Champagner, die Herren Erdinger Weissbier, bis auf Jachen, er nippte an einem einheimischen Calanda Edelbräu.
Floriana und die vier Begleiter hatten vom Skifahren die Nase voll und wollten an der Bar ein bisschen Party machen. Luis Battista hingegen hatte noch Lust auf eine Abfahrt und fragte Karolina. Sie lächelte ihn an. Plötzlich gab sie ihm einen flüchtigen Kuss. Danach machten sie sich mit Jachen auf zur 6er-Sesselbahn Trais Fluors. Dirk tappte hinterher, sich mithilfe der Stöcke vorantreibend.
Oben angekommen, bestand Luis Battista darauf, Karolina die schwarze Piste zu zeigen. Dirk war strikt dagegen. Karolina jedoch, etwas beschwipst, hielt sich am Bundesrat fest: «Die schwarze Piste ist doch Kiki!» Sie kicherte.
Jachen war zwar nicht begeistert. Aber er war froh, dass der Bundesrat etwas lockerer drauf war. Er würde ihn und vor allem Karolina schon irgendwie den steilen Hang hinunterlotsen. Er hatte noch alle seine Gäste hinuntergebracht. Und was Dirk machte, war ihm egal.
Der erste Teil der Strecke war einfach. Da die Piste allerdings nicht präpariert war, kämpfte Karolina bereits mit den ersten Tücken des Tiefschneefahrens. Kurz darauf standen sie dann vor dem langen, steilen Schlusshang. Wenn es lange nicht geschneit hatte, war es eine Buckelpiste, die wirklich nur für sehr gute Skifahrer zu bewältigen war. Nun aber war es eine bereits von anderen Skifahrern durchpflügte Off-Piste-Abfahrt mit hohen Schneewällen dazwischen, was sie nicht einfacher machte. Jachen zeigte mit ganzem Körpereinsatz, wie man diese Schneewälle umfahren oder überspringen musste, indem er in die Knie ging, sich dann streckte und sich wieder tief hinunterkauerte. «Ihr müsst euch klein machen, dann gross, wieder klein und so weiter», wies er seine Gäste an. «Ihr müsst diese Wälle schlucken!»
«Ich schluck lieber ein Bier, Alter!», grölte Dirk.
Karolina hielt sich an Luis Battistas Arm fest und kicherte erneut.
«Alles klar?», fragte Jachen. Dann stiess er sich ab, wedelte mit eleganter Leichtigkeit den Hang hinunter und hielt nach rund einer Minute an: «Sauschön, viel Spass!»
Karolina schaffte acht Schwünge, dann fiel sie in den Schnee. Luis Battista fuhr sofort los.
«Super, Luis!», rief Jachen. «Jaaaa! Weiter so!»
Doch Luis fuhr nur bis zu Karolina und stoppte. Dirk fuhr ebenfalls los. Schon nach zwei Schwüngen begann er zu fuchteln. «Hoch, tief, hoch, tief, schlucken!», schrie Jachen.
Dirk kümmerte sich nicht darum. Ungelenk kämpfte er sich den steilen Hang hinunter, blieb kurz bei Luis und Karolina stehen und mühte sich weiter bis zu Jachen.
«Hat sich Karolina weh getan?», fragte der Skilehrer.
«Nein.»
«Was ist denn? Warum steht sie nicht auf?»
«Los, fahren wir weiter», sagte Dirk.
Jachen sah, wie sich Luis neben Karolina in den Schnee fallenliess und die junge Frau küsste.
«Los jetzt, du alter Steinbock, die beiden wollen ein bisschen alleine sein», sagte Dirk schroff. «Du weisst schon!»
AUTOBAHNRASTSTÄTTE HEIDILAND, BAD RAGAZ
Die Erleichterung war Myrta anzumerken: Sie schwieg und ass. Rösti mit Spiegelei, dazu einen mittleren Salatteller, den sie aber am Büffet so geschickt geladen hatte, dass er riesig geworden war.
Da sie noch einige Tage Ferien hatte, wäre sie gerne bei Joël im Engadin geblieben. Vor allem hatte sie noch Fragen an ihn. Wie war er an das Bild gekommen? Warum hatte er nur ein Handyfoto? Wie war der Unfall tatsächlich passiert? Doch der behandelnde Arzt hatte sie gebeten, Joël in Ruhe zu lassen. Da Martin auf seinen Hof zurück musste, beschloss sie, mit ihm nach Hause zu fahren. Natürlich hatte er ihr mehrfach gesagt, er fahre alleine zurück. Aber irgendwie wollte Myrta mit Martin die Reise beenden, schliesslich war er nur ihretwegen mitgekommen. Und da Joël laut Arzt wirklich über dem Berg war und Joël ihr klar gemacht hatte, dass er alleine klarkomme und sie sich um die Veröffentlichung seines exklusiven Fotos kümmern solle, hatte sie mit Martin gegen 17 Uhr das Engadin verlassen. Kurz nach dem Julierpass war sie eingeschlafen. Bei Chur war sie aufgewacht und hatte Martin gefragt, ob er ebenfalls Hunger habe. Martin hatte ohnehin vorgehabt, in der Raststätte Heidiland einzukehren.
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