Er fragte Myrta, ob sie in den nächsten Tagen mal Lust hätte auf einen gemeinsamen Ausritt.
«Ja, Lust schon …», antwortete Myrta, stockte aber.
«Doch nicht?»
«Martin, ich weiss nicht, ich bin dir wirklich dankbar, und ich mag dich auch, ganz anders als früher, du bist ein toller Mann, aber weisst du …»
«Bernd, Joël und so weiter …»
«Nichts weiter!»
«Ich meinte die Arbeit.»
«Vollpfosten!», sagte Myrta und lächelte ihn an. Ihre grossen, dunkelbraunen Augen leuchteten und wurden noch ein bisschen grösser. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, ergriff Martins Hand und drückte sie.
Martin zog seine Hand sanft weg. «Hey, Myrta, bloss ein Ausritt, okay?»
Myrta schwieg.
«Sag mal, Myrta …»
«Ja?», fuhr Myrta sofort dazwischen. «Ja, lass uns ausreiten morgen!»
«Gut», antwortete Martin überrascht. «Eigentlich wollte ich ganz was anderes fragen.»
«Oh.»
«Was machst du jetzt mit Joëls Foto?»
«Ich habe es auf mein iPhone kopiert und muss mal schauen.»
«Du hast doch gesagt, Joël habe Battista beim Fremdflirten erwischt.»
«Ja, aber ich habe keine Ahnung mit wem.»
«Na und?»
«Ist ein bisschen heikel, ein solches Bild zu veröffentlichen.»
«Warum?»
«Wenn die Dame nur eine gute Bekannte ist, wenn sie gar eine Verwandte ist? Was sollen wir dann schreiben? Skandal? Bundesrat flirtet mit schöner Unbekannten? Flirtet er überhaupt?»
«Zeigst du mir mal das Bild?»
Tatsächlich hatte Myrta Martin in der allgemeinen Hektik von ihren Besuchen bei Joël viel erzählt, auch von diesem Bild, aber gezeigt hatte sie es ihm noch nicht. Sofort griff sie in ihre Tasche, holte ihr Handy hervor, klickte das Bild an und präsentierte es Martin.
Der schaute lange auf den Bildschirm. Dann gab er das iPhone zurück.
«Was ist?», fragte Myrta. «Erkennst du den Bundesrat etwa nicht?»
“Doch.»
«Aber?»
«Die Frau heisst Karolina Thea Fröhlicher, Besitzerin von Jack and Johnson …»
«… einem der teuersten Springpferde der Welt», ergänzte Myrta.
«Sie bezahlte einige Millionen Euro dafür. Also besser gesagt, ihr Vater, Gustav Ewald Fröhlicher, schwerreich und unter anderem Hauptaktionär der Parlinder AG.»
«Was? Dem gehört die Parlinder AG, dieser riesige Konzern?»
«Ja.»
«Oh mein Gott …»
SPITAL SAMEDAN
Als Joël langsam die Augen öffnete, erkannte er im abgedunkelten Spitalzimmer eine Person, die irgendetwas in den Wandschränken suchte. Da die Person keine helle Spitalkleidung trug, ging Joël davon aus, dass es sich um einen Besucher oder eine Besucherin handelte. Eher ein Mann, schätzte Joël, aufgrund der Grösse und der Breite. Joël konnte sich nicht vorstellen, wer ihn besuchen wollte. Wie spät war es überhaupt? Draussen war es jedenfalls schon finster. Joël schloss die Augen, blinzelte aber immer wieder.
Der Mann drehte sich zu ihm um, kam ans Bett, warf einen kurzen Blick auf ihn und griff nach Joëls iPhone, das auf dem Nachttisch lag. Wegen des hell erleuchteten Bildschirms konnte Joël nun das Gesicht sehen. Den Kerl hatte er schon einmal gesehen. Aber er wusste nicht gleich wo. War es einer der Typen in der Seilbahn? Auf dem Sessellift? Joël schloss die Augen ganz und stellte sich schlafend.
Der Kerl drückte auf dem Handy herum. Dann nahm er sein eigenes Mobiltelefon hervor und tippte irgendetwas.
Vermutlich speichert er einige Telefonnummern aus meinem Handy, dachte Joël.
«Wusste ich es doch», flüsterte der Typ plötzlich ganz leise. «Du miese Ratte hast ein Handybildchen gemacht.»
Wieder hörte Joël, wie der Mann auf den Telefonen herumtippte.
Plötzlich hatte Joël das Gefühl, den Mann riechen zu können. Ein herber Parfümgeruch vermischt mit Sonnencrème-Duft. Joël bekam Angst. Bloss nicht blinzeln! Der Kerl ist ganz nah bei mir. Schreien?
Joël erwartete, dass er gleich die Hände des Mannes an seinem Hals spüren würde.
«Pass auf, Arschgesicht!», sagte der Typ leise. «Eigentlich solltest du schon tot sein. Aber weil die Idioten dir das Handy nicht abgenommen haben …» Er hielt einen Moment inne. «Wenn das Foto irgendwo auftaucht, bringe ich es persönlich zu Ende.»
Joël spürte eine grosse, kräftige, rauhe Hand an seinem Hals und zuckte zusammen.
«Es wäre besser für dich», sagte der Mann weiter, «wenn du mir ein Zeichen geben würdest, dass du das kapiert hast.»
Joël nickte leicht.
27. Dezember
GUTSHOF IM STÄDELI, ENGELBURG BEI ST. GALLEN
Der Ausritt war phantastisch. Bei schönstem Sonnenschein ritten Myrta und Martin auf ihren Pferden Mystery of the Night und Valérie, einer siebenjährigen Stute, durch die Gegend rund um das Andwiler Moos. Mal im Schritt, oft im Trab, ab und zu im Galopp. Myrta fühlte sich wohl. Sie genoss Martins Nähe. Er strahlte etwas Beruhigendes aus.
Martin sprach nicht viel. Er fragte höchstens, ob sie da- oder dortlang reiten sollten. Dann schwieg er, und auch Myrta konnte schweigen. Bin ich jetzt gerade glücklich?, fragte sie sich. Und wenn ja, warum?
Seit sie Chefredakteurin der «Schweizer Presse» war, kannte sie solche Glücksgefühle kaum noch. Das war immerhin seit acht Monaten der Fall. Sie war damals von Jan Wigger, dem Geschäftsführer der Zanker AG, zu der die «Schweizer Presse» gehörte, engagiert worden, um das Blatt zur Nummer eins unter den Boulevard- und Frauenzeitschriften auf dem Schweizer Markt zu machen. Sie hatte zwar keine grosse Erfahrung mit der sogenannten «Yellow Press», doch weil sie bei RTL bei einem Promi-Magazin gearbeitet hatte, erhoffte man sich von ihr, dass sie dank ihrer Beziehungen an exklusive Stories käme. Zudem war Myrta selbst auch so etwas wie eine C-Prominente: Hinter den internationalen Stars der Königshäuser, des Films und der High Society, hinter den nationalen Promis aus Sport, Fernsehen und Kultur gehörte sie immerhin zum Heer der mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten, die unregelmässig in einer Zeitung oder einer Fernsehsendung auftauchen. Myrta war nur deshalb immer wieder in diesen Rubriken erschienen, weil sie es als Schweizerin bei RTL vor die Kamera geschafft hatte. Zumindest hin und wieder. Das reichte, um in die Riege der C-Promis beziehungsweise der Cervelat-Promis, wie solche Leute in der Schweiz nach der berühmtesten eidgenössischen Wurst genannt wurden, aufgenommen zu werden.
Doch die erhoffte Wende der «Schweizer Presse» hatte auch sie bisher nicht herbeiführen können. Die Auflage des Traditionsblattes liess sich einfach nicht steigern. Ihre Vorgängerinnen und Vorgänger hatten bereits alles versucht: Der eine hatte das Blatt vom News-Journalismus befreit, der zweite hatte auf den Online-Markt gesetzt, der dritte – die erste Frau – hatte die Lebensberatung eingeführt, und der vierte hatte wieder vermehrt News-Stories abgedruckt, aber innert sechs Monaten Hunderte von Abonnenten verloren. Mit Myrta Tennemann sollte die «Schweizer Presse» definitiv ein People- und Boulevardmagazin werden, vermehrt junge Leute ansprechen und zu einem sogenannten Crossover-Produkt mutieren, zu einem sich gegenseitig ergänzenden Print- und Onlineportal für Fernsehen, People-News und Klatsch.
Dass Myrta gerade glücklich war, lag entweder an ihrem Pferd Mystery of the Night oder an der Sonne oder an beidem. Oder an Martin. Ein Gedanke, der ihr durchaus gefiel. Vielleicht hing ihr Hochgefühl aber auch mit Joëls exklusivem Foto zusammen, mit dem sie einen Riesenwirbel auslösen würde und ihr Magazin zumindest für eine gewisse Zeit in den Vordergrund rücken konnte.
Den silbrigen BMW 5er Touring, der vor dem elterlichen Haus parkiert hatte, sah Myrta schon von weitem.
«Bernd», sagte sie erstaunt.
«Bernd?», fragte Martin.
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