Er ging ins Haus. Und als er zurückkam, mit zwei Bierdosen in der Hand, stand sie immer noch neben dem Gartentisch. Der war ziemlich verdreckt, sah Schiller jetzt. Genau wie die Stühle.
»Leider kein Cognac mehr da. Auch kein Rum. Die Leute von nebenan, die auf mein Haus aufgepasst haben, während ich … während ich weg war.«
»Schiller«, sagte sie mit einem trockenen Lachen. »Während Sie weg waren! Sie waren nicht weg, Sie waren bloß im Knast.«
Dann schüttelte sie den Kopf zu dem angebotenen Bier.
»Wir kümmern uns lieber um mein Hotel. Bestimmt gibt’s da auch eine Bar.«
Michaela Harms schulterte ihre Handtasche und ging auf den Volvo zu, der in der Einfahrt stand. Den kleinen Rollkoffer überließ sie ihm.
Einen kurzen Moment überlegte Schiller, ob es an ihm lag, dass die Frauen ihn so behandelten: die Polizistin, seine Ex, Vera Gräber und jetzt Michaela Harms. Mit Oliver hatte es solche Probleme nie gegeben.
Niklas Lenz war ausgestiegen und dirigierte das Wohnmobil mit großen Armschwüngen auf den Standplatz der Wohnmobil-Oase Prora, den man ihnen zugewiesen hatte. Marvin hinter dem Steuer schaute beim Rückwärtsfahren in die Außenspiegel, mal rechts, mal links.
»Wink du nur. Ich fahre so, wie ich will«, sagte er zu seinem Bruder, der ihn wegen der geschlossenen Fenster aber nicht hörte. Was gut war, wie Danbi fand. Sie konnte es nicht leiden, wenn die beiden stritten. Sie blickte durch das Heckfenster: Ein großer, teilweise asphaltierter Platz, begrenzt von einem kleinen Wäldchen, sonst nichts als Campingfahrzeuge. Marvin Lenz stellte den Motor ab, zog die Handbremse und stieg aus, um das Bordnetz des Wohnmobils mit dem Platzstrom zu verbinden. Von der Beifahrerseite stieg Niklas Lenz wieder ein, kletterte auf seinen Sitz und drehte sich zu Danbi um. Sie wusste, was jetzt folgte, und kam ihm zuvor.
»Uhrvergleich«, lächelte sie und warf einen Blick auf das Display ihres Smartphones. »13 Uhr, 43 Minute.«
»Es heißt Minuten und Uhrenvergleich«, korrigierte Niklas. »Und bei mir ist es fünfundvierzig.«
»Minuten«, sagte Danbi.
»Okay.«
Niklas seufzte.
Marvin hatte alle Leitungen angeschlossen, kam zurück und schaute seinen Bruder erwartungsvoll an.
»Treffpunkt 16 Uhr exakt am Beachvolleyball-Stadion. Bambi geht zu Fuß, du nimmst den Bus, und ich gönne mir ein Taxi«, erklärte Niklas Lenz.
»Nein, ich auch Bus«, protestierte Danbi.
»Hör zu, Kleines«, sagte Marvin geduldig und blickte zu ihr hoch, »wenn wir arbeiten, dann kennen wir uns nicht, dann sprechen wir uns nicht und lassen uns auch nicht zusammen blicken.«
»Ich habe verstanden«, erklärte Danbi. »Aber vielleicht andere Bus? Nicht deiner.«
»Ende der Diskussion«, sagte Niklas. »Du läufst. Damit du was von Deutschland siehst.«
Er drehte sich zu seinem Bruder um.
»Steig aus. Sie will sich umziehen.«
Die Lenz-Brüder verließen das Wohnmobil, und Danbi zog rundherum die Vorhänge zu. Dann öffnete sie den eingebauten Schrank, in dem ihre Garderobe hing. Niklas und Marvin lebten zum Glück aus ihren Koffern, für deren Sachen wäre hier wirklich nicht genug Platz gewesen.
Danbi wählte ihre Arbeitskleidung für den heutigen Tag aus und legte sie zurecht: Das helle Strandkleid mit den lachsfarbenen Punkten und dem roten Lackgürtel, die roten Bastpumps mit den Plateausohlen, der breitrandige Strohhut mit dem Band, das genau die gleiche Farbe wie die Schuhe und der Gürtel hatte. Sonnenbrille und fertig. Leider besaß sie keine Tasche, die dazu passte. Aber mehr als ihr Telefon wollte sie ja auch nicht mitnehmen.
In der Enge des Wohnmobils schälte sie sich aus Jeans und T-Shirt und streifte das Kleid über. Anschließend beugte sie sich in die Nasszelle und schminkte ihre Lippen, erst mit dem roten Konturstift, dann mit dem Lippenstift. Sie schickte ihrem Bild im Spiegel einen Kussmund, mehr war wirklich nicht nötig.
Sie setzte sich in die offene Tür des Wohnmobils, um die Pumps anzuziehen. Niklas kam um das Heck des Wohnmobils herum.
»Hör zu, Mädchen, du läufst da runter bis zum Strand«, er zeigte über eine Gruppe von Kiefern hinweg, »dort hältst du dich rechts, bis du zur Seebrücke von Binz kommst.«
»Binz«, sagte Danbi probeweise, während sie den zweiten Schuh anzog.
»Richtig«, sagte Niklas Lenz. »Du hast alle Zeit der Welt. Aber sei pünktlich. 16 Uhr.«
Danbi nickte und machte sich auf den Weg.
Zehn Minuten später suchte sie immer noch das Meer. Vor fünf Minuten war sie auf ein langes, fünf- oder sechsstöckiges Gebäude gestoßen, das ihr den Weg versperrte. Jetzt lief sie immer noch an dem langen grauen Haus entlang, auf der Suche nach dem Strand.
Die deutsche Ostseeküste hatte sie sich anders vorgestellt. Dieses Gebäude erinnerte sie an ein Foto aus Nordkorea, das sie als Kind zusammen mit ihrem Vater in der Zeitung gesehen hatte. »So wollen wir niemals leben müssen«, hatte der Vater ihr angesichts des Bildes erklärt, »wie unsere armen Landsleute im Norden.« Danbi hatte ihm voller Überzeugung zugestimmt.
Dann plötzlich war das eine Gebäude zu Ende, und das nächste, das fast genauso aussah, begann. Aber zwischen beiden Häusern tat sich ein Durchgang auf, durch den Danbi den blauen Himmel über einem noch blaueren Meer sehen konnte. Wie von einer magischen Hand gezogen, ging sie hindurch. Sie zog die Bastpumps aus, setzte die Füße in den angenehm warmen Sand und lief zum Meer hinunter. Als sie das Wasser erreicht hatte und ihre Zehen von einer kleinen Welle umspült wurden, zuckte sie zurück. Die Ostsee war kühl. Aber nach ein paar Schritten hatte sie sich schon daran gewöhnt. Sie hob den Kopf, um nach der Seebrücke von Binz Ausschau zu halten. Aber sie sah weiter vorne nur viele Menschen, die am Strand lagen, ins Wasser gingen oder vom Schwimmen zurückkamen.
›Binz‹ sagte Danbi noch einmal vor sich hin. Wahrscheinlich würde sie doch jemanden nach dem Weg fragen müssen.
Danbi ging weiter am Saum des Meeres entlang. Es roch nach Seetang, Salz und Sonnenöl. Die Mittagssonne brannte auf ihr Kleid, sie war froh, dass sie den Hut hatte. Vielleicht, überlegte sie, sollte sie sich einen Badeanzug kaufen und später auch kurz ins Wasser gehen. Plötzlich und ohne Vorwarnung sprangen rechts von ihr ein paar Menschen hinter einer aufgestellten Stoffbahn hervor und stürmten auf sie zu. Drei Männer und zwei Frauen. Alle braungebrannt. Und nackt. Danbi blieb wie angewurzelt stehen. Die Gruppe teilte sich, lief an ihr vorbei und stürzte sich ins Wasser. Mit großem Spritzen und Lachen. Danbi fragte sich, ob das die Menschen aus dem grauen Gebäude waren, so arm, dass sie sich keine Badeanzüge leisten konnten. Aber etwas an dem Gedanken stimmte nicht: Sie wirkten zu fröhlich und hatten auch nicht mager ausgesehen. Einer der Männer hatte sogar richtige Speckrollen auf den Hüften. Und eine Goldkette um den Hals. Sonst trug er nichts, aber eine schwere Goldkette.
Im Weitergehen stellte Danbi fest, dass das eben nicht die einzige Gruppe war, die keine Badeanzüge besaß. Am Strand und im Wasser entdeckte sie immer mehr Menschen, die nichts anhatten. Man musste nur genau hinschauen. Also würde sie vielleicht auch keinen Badeanzug kaufen müssen. Aber bevor sie das zu Ende gedacht hatte, schüttelte sie schon den Kopf. Sie, ohne alles? Wo andere Menschen sie sehen konnten? Ausgeschlossen!
Ganz plötzlich, wie aus dem Nichts, baute sich ein Herr vor Danbi auf. Sie blieb irritiert stehen und starrte ihn an. Er war alt, zwischen 50 und 60, und zu ihrer Erleichterung vollständig bekleidet: eine dunkle Stoffhose, ein weißes Hemd und eine weiße Mütze mit einem schwarzen Schirm, der oben in der Mitte einen goldenen Anker trug. Polizei war Danbis erster Gedanke. Der Mann machte zwar ein fröhliches Gesicht, aber das war manchmal so bei den deutschen Beamten. Jetzt zwinkerte er ihr aber sogar zu.
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