Radegast tastete alle seine Taschen ab, schaute auch unter die Einkäufe in seinem Korb. Das Portemonnaie blieb verschwunden. Er ließ die Kirschen da. Wider besseres Wissen ging er noch einmal zu allen Ständen zurück, an denen er eingekauft hatte. Natürlich ohne Ergebnis. Radegast war längst klar: Man hatte ihn beklaut.
»Donnerlüttchen«, sagte Joachim von Plessen, der neben Radegasts Schreibtisch an der Fensterbank lehnte. »Einem Kriminalbeamten das Portemonnaie stante pede aus der Kledage zu entwenden, das entbehrt nicht einer gewissen Dreistigkeit.«
»Aus der Gesäßtasche, hier«, sagte Radegast und zeigte auf seine Jeans. Die leicht verschrobene Ausdrucksweise seines jungen Kollegen fiel ihm oft gar nicht mehr auf. »Und dass ich Polizist bin, sieht man mir ja nicht an. Hoffe ich.«
»Aber als Polizist weißt du, dass die Geldbörse da nicht hingehört. Am besten aufgehoben ist sie in einer Innentasche, möglichst mit Reißverschluss«, mischte sich Hella Binder ein, die im Türrahmen erschien.
»Ich habe aber keine Innentasche.«
Das klang gereizter, als Radegast es meinte. Deshalb versuchte er einzulenken.
»Aber nach dieser Erfahrung werde ich mir sowas vielleicht zulegen.«
»Falls es dich tröstet, Chef: Du bist nicht das einzige Opfer.«
Sie legte einen Zettel auf Radegasts Schreibtisch.
»Das hier haben die uniformierten Kollegen aufgenommen.«
»Nee«, sagte Radegast, »das tröstet mich überhaupt nicht.«
Er warf einen Blick auf den Zettel, Joachim von Plessen trat hinter ihn und schaute ihm über die Schulter.
»Fünf Taschendiebstähle in Stundenfrist, samt und sonders auf dem Neuen Markt. Es hat den Anschein, als würde da ein manuell sehr geschickter Fachmann seiner Profession nachgegangen sein. Beziehungsweise sein Unwesen getrieben haben.«
»Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen«, vermutete Hella wahrscheinlich zu Recht. »Nicht jeder bringt sowas zur Anzeige. Unser Chef ist das beste Beispiel dafür.«
»Hier«, sagte Radegast und gab von Plessen den Zettel. »Dein Fall. Bring diesen Fachmann zur Strecke. Und jetzt bitte raus hier. Ich muss die gestohlenen Karten sperren lassen und so weiter.«
»Ich gelobe, mein Bestes zu tun«, sagte Joachim von Plessen, »aber, Chef, ich brauche dann baldmöglichst Ihre Anzeige bezüglich des Taschendiebstahls.«
»Raus«, sagte Radegast, »und Tür zu.«
Als von Plessen gegangen war, machte Radegast im Kopf schnell Inventur des entwendeten Portemonnaie-Inhalts. Von den 150 Euro, die er vorhin abgehoben hatte, hatte er Laura 100 geliehen, blieben 50, minus die Einkäufe vom Markt plus die 40 Euro, die ursprünglich noch im Portemonnaie waren. Ein Verlust von ungefähr 70 Euro plus Münzen, dazu vier oder fünf Karten, zum Glück nichts Dienstliches. Seine EC-Karte war das Wichtigste, die musste er sperren lassen. Er wählte zweimal die 116, als das Telefon auf Struves Schreibtisch klingelte. Radegast legte den Hörer wieder auf und machte sich lang, um das andere Telefon zu erreichen.
»Kriminalpolizei Stralsund, Radegast.«
»Moin, Kollege. Färber aus Greifswald. Ist Annekatrin Struve zu sprechen?«
»Nee«, sagte Radegast, »im Moment nicht. Soll ich was ausrichten?«
Färber zögerte etwas, bevor er fortfuhr.
»Bestell ihr bitte, dass Roland Schiller wieder draußen ist. Schiller wie Goethe, dann weiß sie schon. Und liebe Grüße. Tschüss.«
Der Kollege aus Greifswald hatte aufgelegt. Radegast wusste, dass Annekatrin dort vor ihrer Zeit in Stralsund Dienst getan hatte. Aber der Rest war für ihn ein einziges Fragezeichen. Noch eins.
Das Wohnmobil rollte über eine schmale Landstraße. Obwohl es ein strahlend blauer, heißer Sommertag war, lag die Fahrbahn fast vollständig im Schatten. Die Bäume rechts und links der Straße waren so groß und standen so dicht, dass ihre Kronen sich berührten. Zuhause in Korea hatte Danbi so etwas nie gesehen. Sie lehnte sich zurück und genoss den Blick zwischen den Bäumen hindurch auf Wiesen und Felder. Vorhin auf der hohen Brücke hatte sie das Meer gesehen, wunderbar blau, an den Rändern fast türkis. Aber hier unter den Bäumen gefiel ihr diese Insel noch besser. Das Smartphone in ihrer Hand gab ein Pling von sich. Danbi steckte es nach einem kurzen Blick auf das Display weg. Eigentlich sollte sie ihre Mails und Nachrichten beantworten. Die meisten davon kamen wie eben die SMS nach wie vor von ihren Schulfreundinnen oder Verwandten. Aber Korea war so weit weg. Für sie jetzt zu weit. Sie schaute lieber aus dem Fenster. Diese Insel Rügen mochte sie schon jetzt sehr.
Als sie über die Brücke gefahren waren, hatte Niklas ihr einige Geldscheine nach hinten gereicht. Ihr Anteil vom Wochenmarkt in dieser Stadt mit den roten Ziegelhäusern, deren Namen sie sich nicht gemerkt hatte. Niklas und Marvin waren zufrieden mit ihrem spontanen Abstecher. Sie hatte das Geld weggesteckt, ohne es zu zählen. Danbi war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt. Finanzielle Sorgen hatte sie nie kennengelernt. Ihr Vater war in ihrer Heimat ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Er hatte einen Vertrieb für elektrische Haushaltsgeräte aufgebaut, zunächst nur in Seoul. Inzwischen verkaufte er sie in ganz Südkorea. Er vertrat die Überzeugung, dass die Mixer, Geschirrspüler und Gefrierkombinationen aus Deutschland konkurrenzlos wären, die besten weltweit. Und Danbis Mutter, die als passionierte Hausfrau in der Lage war, das ebenfalls zu beurteilen, teilte seine Ansicht. So hatte es für die Eltern nahegelegen, ihr einziges Kind in Seoul auf eine Höhere Schule zu schicken, an der auch Deutsch unterrichtet wurde.
Zuerst hatte Danbi sich damit schwergetan. Aber dann, mithilfe von Gesine Hartung, einer Austauschlehrerin aus Hannover, hatte sie sich in die deutsche Literatur und Sprache verliebt: Emilia Galotti, das Käthchen von Heilbronn, die Marquise von O …. Gesine Hartung hatte Danbi gezeigt, dass diese Frauenfiguren sehr viel mit ihr und ihrem Leben zu tun hatten. Und Danbi hatte sich ihnen verbunden gefühlt.
Erst nach der Schulzeit, als Danbi mit einer Freundin das Gastspiel einer brasilianischen Theatergruppe besucht hatte, war ihr von einem Moment auf den nächsten klargeworden, dass es ihre Aufgabe wäre, die Heldinnen ihrer Schulzeit auf der Bühne darzustellen. Auf einer deutschen Bühne. Nach einer kurzen und heftigen Diskussion war die Mutter bereit gewesen, die Tochter ziehen zu lassen. Und ihr Vater hatte ihr einen Deutschkurs für Fortgeschrittene in Freiburg finanziert, bei dem sie scheiterte, dann noch einen, diesmal den für Anfänger. Auf der privaten Schauspielschule, die sich daran anschloss, wurde seiner Tochter dann erklärt, dass es kaum deutsche Theater geben würde, die Verwendung für eine Emilia Galotti mit koreanischen Gesichtszügen hatten. Das konnte Danbi sich allerdings nicht eingestehen. Und ihren Eltern schon gar nicht.
Als Aushilfskellnerin mit demnächst ablaufendem Visum in einer Freiburger Studentenkneipe war sie Niklas Lenz begegnet. Fast 30 Jahre älter und fast 20 Zentimeter kleiner, dafür aber 20 Kilo schwerer als sie, machte er ihr nach einer kurzen Kennenlernphase ein Jobangebot. Niklas und Marvin Lenz wollten in einem Wohnmobil durch Deutschland reisen und arglosen Passanten ihre Geldbörsen und Portemonnaies aus Jacken- und Gesäßtaschen ziehen. Genaugenommen wäre es Niklas, der zieht und das Erbeutete sofort an Marvin übergibt. Der hätte es dann so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone zu bringen. Bambis Aufgabe würde es sein, auf ein Signal von Niklas hin das ins Auge gefasste Opfer abzulenken. Oder im Fall von Entdeckung für Verwirrung zu sorgen, bis Marvin und Niklas in Sicherheit wären. Weil bei diesem Job ihre schauspielerischen Fähigkeiten gefragt waren, hatte Bambi das Engagement angenommen. Ihren Eltern, mit denen sie mindestens zweimal die Woche skypte, hatte sie erzählt, sie sei nun auf Tournee. Mit den »Räubern«.
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