Nun lag erstmals die Weiterentwicklung der Nutzpflanzen nicht mehr allein in den Händen der Bauern. Man begann gezielt zu züchten. Um 1780 kreuzte man verschiedene Landsorten von Kartoffeln, 1786 selektierte F.C. Achard die ersten zuckerreichen Rüben und züchtete schließlich die „Weiße Schlesische Zuckerrübe“, die die Grundlage für die bald florierende industrielle Erzeugung von Zucker aus Rüben wurde. Innerhalb von nur 100 Jahren konnte durch geschickte Auslese der Zuckergehalt der (Zucker-)Rübe von 2 auf 15 Prozent gesteigert werden. In England begann man 1790 mit kontrollierten Züchtungen von Mark- und Palerbsen. Der Augustinermönch Gregor Mendel erforschte in Brünn ebenfalls an Erbsen die später nach ihm benannten Regeln der Vererbung und veröffentlichte sie 1866. Zum Durchbruch seiner Gesetze bei den Züchtern in Europa kam es allerdings erst um 1900, als verschiedene Botaniker unabhängig voneinander Mendels Regeln wiederentdeckten und erfolgreich verbreiteten.
Im 19. Jahrhundert etablierten sich die ersten professionellen Pflanzenzüchter. Vor allem Frankreich und Deutschland wurden zu Zentren der Gemüsezucht. Ihre optimierten Pflanzen wurden in ganz Europa und den USA gehandelt.
HYBRIDE UND GENTECHNIK – HOHE ERTRÄGE MIT MONOKULTUREN
1909 gab es in den USA erste Versuche zur Hybridzüchtung von Mais. 1937 entdeckten die US-amerikanischen Forscher Blakeslee und Avery, dass man mit dem Zellgift der Herbstzeitlosen (Colchizin) eine Verdopplung der Chromosomensätze in Pflanzenzellen erreichen konnte: Erstmals konnte der Mensch in das Erbgut von Pflanzen eingreifen und so gezielte Mutationen herbeiführen. Beides stellte die Züchtung von Kulturpflanzen vor ganz neue Möglichkeiten.
1940 begann man in den USA mit der Hybridzüchtung von Zuckerrüben. 1956 konnte man in Europa die ersten Maishybriden kaufen und pflanzen. Bis dahin waren alle gezüchteten und angebauten Kulturpflanzen samenfest und offen abblühend: Jeder konnte seine eigenen Pflanzen nach Gutdünken vermehren, jede neu ausgesäte Pflanze ähnelte der vorhergehenden im Großen und Ganzen. Das änderte sich jetzt: Hybridsorten (nach Mendel „F1-Sorten“ genannt) sind nicht sortenecht nachbaufähig. Sät man hybrides Saatgut aus, entstehen daraus vielgestaltige Pflanzen, die meist deutlich ertragsärmer sind. F1-Sorten nutzen den sogenannten Heterosiseffekt: Sie werden durch genetisch möglichst unterschiedliche Väter und Mütter gezüchtet. Dadurch kommt es zu einer höchst effektiven Vermischung des Erbmaterials: Die Nachkommen sind in den meisten Fällen um ein Vielfaches vitaler, größer und kräftiger. Man kennt Hybride auch aus dem Tierreich: Der Maulesel hat ein Pferd als Vater und einen Esel als Mutter, beim Maultier ist es umgekehrt. Beide können sich nicht fortpflanzen, sind aber sehr widerstandsfähige, ausdauernde Tiere. In der Landwirtschaft bedeutet das: Der Landwirt bekommt kräftige, ertragreiche Pflanzen, die zur gleichen Zeit keimen, blühen und Früchte ausbilden – ein großer Vorteil für den gewerbsmäßigen Anbau und einer nach Industriemaßstäben funktionierende Landwirtschaft – und im globalen Maßstab eine entscheidende Entwicklung für die Ernährung der Menschheit. Der Nachteil: Hybridpflanzen können sich nicht fortpflanzen. Der Bauer muss jedes Jahr neues Saatgut nachkaufen, das bedeutet ein gutes Geschäft für den Hersteller von Saatgut – und Abhängigkeit der Bauern von Großkonzernen, vor allem in Schwellen- und Entwicklungsländern.
In den 1960er Jahren begann der flächenmäßige Anbau von Hybridsorten auf unseren Äckern, der bis heute andauert. Begleitet wird er vom Einsatz von synthetischen Düngemitteln, Herbiziden und Pestiziden. Das ermöglichte Monokulturen und führte zu einer signifikanten Ertragssteigerung, aber auch zu immer massiveren Umweltproblemen und Erkrankungen bei denen, die diese landwirtschaftlichen Produkte aßen. Heute ist man beim Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden etwas zurückhaltender, aber Hybridsorten dominieren dennoch den kommerziellen Anbau: Beim Mais zu 100 Prozent, bei den meisten Gemüsesorten sind nur noch wenige samenfeste im Handel. Seit den 1980er Jahren kaufen sich große Chemiefirmen weltweit in den Saatgutmarkt ein. 2007 verkauften die zehn größten Saatguterzeuger zwei Drittel des weltweit gehandelten Saatguts. Jetzt werden bestimmte Hybridsorten gleich mit dem passenden Pestizid oder Herbizid verkauft – alles mit dem Ziel, die Erträge weiter zu steigern.
1960 wurde die Methode der Protoplastenfusion in der Pflanzenzucht entwickelt. Dabei werden zwei Zellen miteinander verschmolzen, indem man ihre Zellwände zuvor durch Enzyme auflöst. Damit kann man auch Tomaten mit Kartoffeln kreuzen. So fanden gentechnische Methoden Eingang in die Pflanzenzucht. 1972 gelang es zum ersten Mal, einen DNA-Strang in einzelne Teile zu zerlegen. Einzelne Gene können nun isoliert und analysiert werden. 1994 kam in den USA die erste gentechnisch veränderte Gemüsesorte auf den Markt: die „Flavr-Savr-Tomate“. 2000 wurde das erste vollständige Pflanzengenom entschlüsselt, 2005 in Deutschland die erste gentechnisch veränderte Maissorte zum Anbau zugelassen.
SAMENECHTE SORTEN – VIELFALT UND AROMAREICHTUM
Seit den 1980er Jahren gibt es – parallel zur zunehmenden „Hybridisierung“ der Landwirtschaft – eine stark wachsende Gegenbewegung, die sich für eine ökologische Züchtung einsetzt. Ihr oberstes Ziel ist die nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen. Man verzichtet bewusst auf den Eingriff ins Erbgut der Pflanze und entwickelt samenechte neue Sorten, die es den Landwirten ermöglichen, ihr eigenes Saatgut zu produzieren. Ziel der Züchtungen ist es, Pflanzen mit einer natürlichen Reproduktionskraft und einer hohe Vitalität zu bekommen, die fruchtbare Samen hervorbringen und sich einem Standort anpassen können. Allerdings dauert die Entwicklung so einer neuen samenfesten Sorte 10 bis 25 Jahre. Auf der anderen Seite widmen sich die Züchter daher dem Erhalt seltener und „alter“ samenfester Sorten. „Alt“ bedeutet nicht, dass man Sorten aus dem Mittelalter wieder anbaut. Die ältesten erhaltenen samenechten Sorten lassen sich höchstens bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen, viele sind bedeutend jünger. „Alt“ bedeutet auch nicht „wild“, sondern die Züchtung der jeweiligen Sorte ist „alt“.
Die Vorteile der „alten“ (oder auch neuen) samenfesten Sorten, deren Früchte oder Wurzeln oft weniger schön aussehen und sich schlechter lagern lassen als Hybride, liegen zum einen in ihrer Vielfalt und zum anderen in ihrem Aroma. So tragen sie schlicht durch ihre Existenz zum Erhalt der Biodiversität bei – was in Zeiten, in denen weltweit unzählige Pflanzen und Tiere aussterben, zu einer Überlebensfrage von uns allen geworden ist. Außerdem bedeutet eine große Sortenvarietät, dass man über eine große Palette an verschiedenen pflanzlichen Eigenschaften eines Gemüses verfügt, die man für Züchtungen neuer Sorten z. B. mit größerer Krankheits- oder Trockenheitsresistenz nutzen kann. Und man hat festgestellt, dass alte Gemüsesorten durch ein stärker ausgeprägtes Wurzelsystem und zahlreiche Verzweigungen der Triebe schwankende Wassermengen besser überstehen, man sie also weniger bewässern muss. Darüber hinaus sind sie im nichtkonventionellen, ökologischen Anbau ohne synthetische Dünge- und Pflanzenschutzmittel oft resistenter gegen Schädlinge und Krankheiten.
Abgesehen von diesen ökologischen und gärtnerischen Vorteilen ist es natürlich auch kulinarisch interessanter, wenn man nicht immer die gleichen Tomaten oder dieselbe Kartoffelsorte isst, sondern in der Küche mit Größe und Farbe, Aroma und Geschmack verschiedener Sorten experimentieren kann. Denn das ist ein weiterer, in der Sicht unseres Buches sogar ein zentraler Pluspunkt alter Sorten: Sie sind nicht nur vielfältiger, sie schmecken und duften auch besser! Ihre Aromen fungieren als natürliche Abwehrkräfte gegen Schädlinge. Das tun sie in hybriden Sorten auch, aber dort legt man eben auf andere Eigenschaften wie Aussehen oder Haltbarkeit mehr Wert. Außerdem müssen Hybride meist schnellen Ertrag liefern, während alte Sorten mehr Zeit zum Reifen haben, also mehr Aroma entwickeln können. Von Salat, Gartenbohnen, Erbsen und Petersilie gibt es überhaupt nur samenfeste Sorten, weil sich hier die Hybridzüchtung entweder züchtungstechnisch als schwer möglich herausgestellt hat oder die Kulturarten kaum Bedeutung im Erwerbsanbau haben.
Читать дальше