AROMA – DIE KUNST DES WÜRZENS
Dass der Mensch sein Essen würzt, zeugt von Geschmack. Aber nicht nur von diesem, müsste man hier sofort einwenden. Denn das, was wir landläufig als Geschmack bezeichnen – als Geschmack einer Speise wie als menschlichen Geschmackssinn – ist nur die halbe kulinarische Wahrheit. Die andere lautet: Aroma.
Die Zunge erkennt süß und sauer, bitter, salzig, das herzhafte umami und eventuell sogar fettig, sie ertastet Texturen wie weich und hart, kross oder flüssig. Auch Reize wie heiß, kalt, scharf, brennend, beißend und prickelnd spielen eine große und unterschätzte Rolle. Sie sind keine Geschmacksreize, sondern eine Empfindung des Trigeminusnervs und tragen zum Gesamteindruck einer Speise, dem Flavour, erheblich bei. Aber Gerichte sind mehr als das: Sie sind blumig, kräuterig, jodig, fruchtig oder röstig, riechen leicht oder intensiv nach Zitronen oder Kiefernnadeln, Rosen oder Orangen, Meer, Holz, Kampfer, Harz, Zimt, Moschus oder tausend anderen Dingen. Hier beginnt die Welt der Aromen – und das Gebiet der Aromaforschung.
In einer Zeit, in der wir relativ einfach über Zutaten aus allen Kontinenten verfügen können, ist das Würzen noch spannender geworden – und zugleich schwieriger: Woher soll man wissen, welche der Hunderten von heimischen und exotischen Gewürzen, Kräutern, Samen und Früchten zueinander passen? Hier kann ein wenig Wissen aus der Kräuterchemie wahre Küchenwunder bewirken. Denn wie sonst könnte man ahnen, dass japanische Wakame-Algen ausgezeichnet mit Schweizer Käse harmonieren? Und Dill, das klassische Kraut des Nordens, mit tropischen Bananen? Dieses Buch will dazu inspirieren, auf der Grundlage von Erkenntnissen aus der Lebensmittelchemie eine ganz neue Intuition beim Würzen zu entwickeln.
ESSEN: SINN UND SINNLICHKEIT
Wenn wir essen, arbeiten all unsere Sinne: Augen und Ohren, Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn. Schon das Betrachten eines appetitlich angerichteten Tellers löst eine ganze Reihe von Erwartungen und Assoziationen aus. Gefällt mir, wie die verschiedenen Elemente angerichtet sind? Sagt mir die Optik zu? Das Auge ist die erste wichtige Prüfinstanz, dementsprechend spielen Farbe und Form der Speisen eine große Rolle. Gleichzeitig werden die Ohren gespitzt, wenn es verheißungsvoll in der Pfanne brutzelt oder wenn zischend flambiert wird. Nicht in jedem Fall, aber manchmal wissen wir sogar die haptischen Eigenschaften eines Gerichts zu schätzen – selbst in der gehobenen Küche gibt es Fingerfood. Immer aber wird vor dem ersten Bissen „geschnuppert“. Denn schon vor dem ersten Kosten versucht das Gehirn, das Gericht in das kulinarische Gedächtnis einzuordnen, besonders bei unbekannten Speisen: Wie riecht denn das? Woran erinnert es? Während Dämpfe und flüchtige Aromen durch die Nase eingeatmet werden, gleicht das Gehirn die Gerüche sofort mit den „gespeicherten“ kulinarischen Erfahrungen und Profilen ab, um zu prüfen, ob die Speise wohl ess- und genießbar ist. Wie rasch und automatisch diese Prozesse ablaufen, kann man an sich selbst beobachten, wenn kulinarisch unbekanntes Terrain betreten wird.
Wird nach der Sicht- und Riechprüfung dann ein Bissen in den Mund genommen, werden die Vorgänge komplizierter. Der erste Zungenkontakt zeigt, ob die Vermutung und der Abgleich mit der individuellen kulinarischen Datenbank richtig waren: Das Essen schmeckt, oder es schmeckt nicht. Dieser Eindruck ist allerdings sehr kurz, denn wird der Bissen als positiv eingeschätzt, beginnt der Esser zu kauen, den Brei gegen den Gaumen zu drücken und im Mund hin und her zu bewegen. Geschmacks- und Tastsinn werden wichtig: Wie und wonach schmeckt die Speise? Ist sie scharf oder wirkt sie kühlend? Welche Konsistenz hat sie und wie verändert sie sich beim Kauen und Befeuchten mit Speichel? Das Kauen und „Schmatzen“ hat noch eine weitere Funktion, denn dabei werden eine Vielzahl von flüchtigen Aromen freigelegt, die jetzt gleichzeitig die Riechzellen im Nasenrachenraum reizen. Erst das sogenannte retronasale Riechen, zusammen mit dem Geschmack und Empfinden auf der Zunge und in der Mundhöhle, lässt uns die Speise entsprechend würdigen – oder auch nicht.
Dieses Urteil hängt allerdings nicht nur von Geschmack, Würzung oder Zubereitung ab, sondern auch von unserer kulturellen Prägung. Essen mit Genuss ist eine hochdimensionale Angelegenheit, weit mehr als „Ernährung“, die nur gut oder schlecht sein kann. Essen ist sinnlich und gehört zu unserer Kultur. Nicht zuletzt deshalb ist Essen in all seinen Facetten ein schier unerschöpfliches Forschungsfeld für zahlreiche Wissenschaftszweige wie beispielsweise Materialforschung, Design, Ethnologie, Geschichte, Biologie, Physik oder Chemie.
WOZU WISSENSCHAFT?
Um zu wissen, was uns schmeckt, sind wir zwar nicht auf die Hilfe der Wissenschaft angewiesen, dafür haben wir unsere Sinne. Aber um zu wissen, was uns außerdem noch schmecken könnte, ist sie äußerst nützlich – dann nämlich, wenn Erfahrung und Experiment angesichts der Vielzahl an Möglichkeiten an ihre Grenzen geraten.
Die meisten Menschen haben gewisse Grundfertigkeiten beim Würzen entwickelt und geben mit großer Selbstverständlichkeit mindestens Pfeffer und Salz an jedes Gericht, Essig, Zitronensaft und Öl an nahezu jeden Salat. Ziel bei der Zugabe all dieser Zutaten ist es, das Essen interessanter zu machen und das Geschmackserlebnis zu intensivieren. Gewürzt und gekräutert wird dabei nach Gefühl, aber auch nach Tradition und Prägung. So hat jede Kultur ganz besondere Würzkombinationen entwickelt. Die chemische Untersuchung zeigt jedoch, dass alle Würztechniken und -traditionen gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen. Der Grund dafür liegt in der physiologischen Wahrnehmung von Duft und Geschmack, die bei allen Menschen ähnlich ist: Mit der Zunge können wir fünf Grundgeschmacksrichtungen schmecken – süß, sauer, salzig, bitter und den herzhaften umami-Geschmack, eventuell auch fettig – und über die Riechzellen der Nase nehmen wir Düfte wahr. Diese Duftstoffe lassen sich je nach ihrer chemischen Zusammensetzung sinnvoll in acht Gruppen einteilen. Anhand eines einfachen Farbgruppenschemas in diesem Buch kann man prüfen, welches Kraut oder Gewürz, welche Frucht oder sonstige Würzzutat welche Aromengruppen aufweist, und kann dementsprechend kombinieren – Kochen nach Farben, sozusagen: Kommen die Aromen aus derselben Gruppe, verstärken sie sich gegenseitig, während Duftstoffe aus verschiedenen Gruppen sich gegenseitig ergänzen.
Die konkrete Anwendung dieses chemischen Wissens kann dann etwa so aussehen: Liebstöckel enthält den Aromastoff SOTOLON, der süßlich nach Ahornsirup duftet. Denkbar wäre daher eine Kombination mit süßen Früchten, etwa mit Erdbeeren, die man in eine dicke Sauce aus Liebstöckel setzt. Über das SOTOLONbekommen die Sommerfrüchte Noten von Ahornsirup und Karamell, und das ganz ohne Zucker und Hitze. Wem das gemundet hat, kann als Nächstes Liebstöckel durch Bockshornklee ersetzen: Auch hier ist die Konzentration von SOTOLONrecht hoch und die Kombination mit Erdbeeren funktioniert tatsächlich – wenn man die Bockshornkleesamen zuvor mit kochendem Wasser überbrüht, damit sie weich werden und einen Teil ihres Bittergeschmacks verlieren. Weiß man außerdem, dass sich das Aroma SOTOLONsehr gut von einer fettigen Umgebung „einfangen“ lässt, also in Fett löslich ist ( Löslichkeit, S. 28), dann kann man die restlichen überbrühten Bockshornkleesamen zwischen die Hälften eines quer durchgeschnittenen Camemberts legen, damit sie den Käse aromatisieren. Jetzt haben wir den Salat: Liebstöckel, Bockshornklee, Erdbeeren, Camembert. All das hängt zusammen, wird über Gewürze und Kräuter miteinander verbunden – und schmeckt auch noch!
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