Die Nervenendigungen des Trigeminusnervs finden sich im gesamten Mundraum.
Die Schmerzrezeptoren reagieren also nicht nur auf Temperaturunterschiede oder Verletzungen, sondern auch auf bestimmte Moleküle: etwa auf das CAPSAICINin Chili, das PIPERINin Pfeffer, das GINGEROLin Ingwer oder das kühlende MENTHOLin Pfefferminze. ZIMTALDEHYDin Zimt wie auch die verschiedenen schwefelhaltigen Senföle im Knoblauch, Lauch oder Zwiebeln werden ebenfalls als „schmerzend kalt“ empfunden. Ob die Reize von echter Temperatur oder von entsprechenden Molekülen stammen, können die Rezeptoren nicht unterscheiden. Der Temperaturbereich des Mundraums, ungefähr 0 °C bis 50 °C, lässt sich daher auch komplett mit verschiedenen Kräutern und Gewürzen abdecken.
Der Aufbau der Schmerzrezeptoren ist hochkomplex: Pfefferschärfe, Chilischärfe oder kühlende Minze werden jeweils von verschiedenen Rezeptoren wahrgenommen. Erst vor wenigen Jahren wurde nachgewiesen, dass das Prickeln und die leichte Taubheit auf der Zunge vom HYDROXY-α-SANSHOOLin Szechuanpfeffer und Parakresse speziell auf die Reizung eines zweiporigen Kaliumrezeptors zurückzuführen ist. Auch das spürbare Prickeln von Mineralwasser und Champagner ist eine Reizung des Trigeminusnervs. Bei Kohlensäure wurde Kohlendioxid verkapselt, das beim Auflösen freigesetzt wird und auf der Zunge einen prickelnden Effekt auslöst. Etwas Brausepulver in Cremes, Schokoladenmousse oder Kartoffelpüree lassen altbekannte Gerichte durch das trigeminale Prickeln in neuem Glanz erscheinen.
Wie sehr sich die Sinne durch entsprechende Kombinationen beeinflussen lassen, zeigt ein kleines Experiment: Eine Tasse heiße Schokolade, die über Pfefferminze mit etwas Menthol versetzt wird, bringt die Schmerzrezeptoren in Verwirrung: Einerseits ist es heiß, andererseits vermittelt die Reize des Trigeminusnervs dem Gehirn wegen Menthol: kalt. Diese widersprüchlichen Informationen können von uns nicht ohne weiteres zugeordnet werden. Anders als beim bekannten heißen Pfefferminztee kann das Gehirn in diesem Fall nicht auf Erinnerungen zurückgreifen.
Diese mitunter schmerzhaften Reizungen des Trigeminusnervs sind eine wichtige Komponente des Würzens, sie umfassen, was man mit „brennend“, „scharf“, „kühlend“, „beißend“, „stechend“ oder „brenzlig“ beschreiben würde. Die körperlichen Reaktionen sind bekannt: tränende Augen, vermehrter Speichelfluss, wärmendes oder kühlendes Gefühl, Niesreiz. Damit kann man in der Küche hervorragend spielen – allerdings sehr vorsichtig. Ein noch rauchendes Stück Zimt oder Süßholz, das unter einer Glasglocke einen Ziegenkäse oder etwas gegarten Fisch räuchert, weckt nicht nur die Vorfreude auf das Raucharoma, sondern kitzelt beim Abheben des Glases die Nase und reizt ganz leicht die Augen. Es werden Stimmungen ausgelöst, die – falls nicht übertrieben wird – den Genuss noch steigern, wie z.B. beim hörbar prickelnden Champagner.
ADSTRINGENZ
Adstringenz ist ein Gefühl im Mund, für das ebenfalls die Trigeminusnervenenden verantwortlich sind. Beim Genuss von Schokolade mit extrem hohem Kakaoanteil und starker Röstung, beim Trinken eines gerbstoffreichen Rotweins, eines Matchas (grüner Tee) oder beim Kauen von Walnüssen weiß man sofort, was das Wort bedeutet: dieses zusammenziehende Gefühl auf der Zunge, das manchmal als „trocken“,„rau“ oder „pelzig“ bezeichnet wird. Der physikalische Grund für das adstringierende Gefühl ist die Wirkung der Gerbstoffe auf die Proteine, die im Speichel für dessen Viskosität und „Schleimigkeit“, also seine physikalische Struktur, verantwortlich sind. Solange die Proteine als Einzelmoleküle fein verteilt sind, nimmt man Speichel als angenehme, die Schleimhäute benetzende Flüssigkeit wahr. Kommen jedoch Gerbstoffe ins Spiel, sorgen sie dafür, dass sich viele Proteine zu größeren Ansammlungen verbinden, was zu einem deutlich anderen Fließverhalten führt: Die Benetzung und Reibung verändern sich, was wir mittels des Trigeminusnervs deutlich spüren können.
Schematische Darstellung eines Lebensmittels, das links aus einer festen, knusprigen Hülle, einer porösschaumigen Füllung und flüssigen Tröpfchen in der Mitte besteht. Rechts sind die inneren Bestandteile vertauscht: Unter der erneut festen, knusprigen Hülle liegt hier eine Flüssigkeit, die eine porös-schaumige Masse umgibt. Die Texturerlebnisse sind aufgrund der unterschiedlichen Anordnungen der einzelnen Strukturelemente vollkommen verschieden.
Wohlschmeckendes, cremiges Speiseeis vereint alle drei Aggregatzustände: feste Eiskristalle, flüssige Fettphasen und durch eine Eismaschine (einen Paco-Jet) jede Menge untergehobene Luft als Gas. Erst das Zusammenwirken dieser drei Phasen lässt das Eis so schmackhaft werden. Dabei wurde das Aroma noch gar nicht angesprochen: Erdbeer-, Vanille-, Banane-, Schokoladen- oder herzhaftes Steinpilzeis? Ungeachtet dessen lässt uns allein schon das ausgewogene Zusammenspiel der Phasen jedes Eis als wohltuend empfinden.
DIE TEXTUR VON LEBENSMITTELN
Der Begriff „Textur“ wird oft verwendet, wenn man Form und Aggregatzustand einer Speise beschreibt, etwa knusprig, hart oder flüssig. Aber Textur ist mehr: Der Begriff umfasst alle Effekte, die von der physikalischen Struktur der Lebensmittel bestimmt sind. Diese ist klar über physikalische Parameter wie Härte, Wassergehalt oder Cremigkeit definiert. Im Gehirn werden diese physikalischen Eigenschaften in eine individuelle Empfindung umgesetzt. Wird etwa ein als „knackig“ beschriebenes Lebensmittel gegessen, bedeutet das Folgendes: Aus einer knackigen, also harten Hülle können zunächst kaum Aromen entweichen. Auf der Zunge wird so eine unelastische Speise als kantig, rau und wenig anschmiegsam wahrgenommen. Sie ist kompakt und lässt sich als Ganzes im Mundraum bewegen. Speichel durchdringt kaum die Schale, das Lebensmittel schmeckt zunächst nach nichts. Erst wenn man daraufbeißt, knackt und kracht es, und die Duftnoten und Geschmacksstoffe werden auf einen Schlag freigegeben. Dieser Vorgang lässt sich auf andere Formen und Oberflächen – rund oder kantig, weich, glatt oder rau, klebrig, schaumig oder mehlig – und auf die Aggregatzustände fest, flüssig oder gasförmig übertragen. Dabei darf man nicht vergessen, dass viele Lebensmittel und Speisen nicht nur aus einer, sondern aus verschiedenen Komponenten bestehen, die alle unterschiedliche Eigenschaften haben und somit eine Kaskade von verschiedenen, gekoppelten Textureindrücken auslösen.
Die Textur einer Speise hat also Einfluss auf ihren Geschmack, ihr Aroma und das Gefühl, das sie im Mund erzeugt. Ein einfaches Beispiel demonstriert dies: Die unterschiedliche Wirkung, die ein und dasselbe Lebensmittel in zweifacher textureller Gestalt erzielt, ist uns vom Besuch auf dem Jahrmarkt bekannt – bei Zuckerwatte. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, drei Würfel Zucker in den Mund zu nehmen und davon zu schwärmen. Wird der Zucker hingegen zu einer Watte verarbeitet, kann er ein kleines Vergnügen für Jung und Alt werden. Ein anderes Beispiel wäre das klassische Alltagsdessert Panna cotta: Leckt man an ihr lediglich mit der Zunge, wirkt die Speise sehr langweilig, denn die in ihr eingefangenen Aromen und Geschmacksauslöser gelangen nicht in ausreichendem Maße auf die Zunge und in den Mundraum, um wahrgenommen zu werden. Erst wenn das Dessert gekaut wird, werden Geschmack und Duft freigegeben. Wie schnell und effektiv diese „Explosion“ erfolgt, ist wiederum eine Frage der Rissbildung und der „mechanischen“ Eigenschaften – der Textur – des Puddings.
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