Die Trigeminusempfindung eines Gerichts lässt sich innerhalb eines dreidimensionalen Raumes verorten. Je mittiger der Reiz, desto ausgewogener ist er – je stärker die Tendenz zu einer Ecke hin, desto prägnanter ist diese eine Empfindung.
Das Terpen MENTHOL aus der Minze hingegen wirkt auf zwei Ebenen: Es kühlt erheblich, spricht aber gleichzeitig das Riechsystem an, ebenso wie das Terpen 1,8 CINEOL, das zwar schwächer als MENTHOL kühlt, aber immer noch spürbare Reize auslöst. Diese Moleküle docken an den „Menthol-Kühlrezeptor“ TRPM8 des Trigeminalsystems an. Manche Schwefelstoffe wie das ALLICIN aus Zwiebeln und Lauchgewächsen oder das ZIMTALDEHYD verursachen schmerzhafte Kältereize, ähnlich wie bei sehr kaltem Eis (oder bei so manch unsachgemäß zubereiteten Molekularküchentricks aus dem flüssigen Stickstoff). Verantwortlich dafür ist der Kälterezeptor TRPA1. Auch der Geruchsstoff EUGENOL aus der Nelke, der ebenfalls in Artischocke, Bambussprosse, Blumenkohl, Gemüsepaprika, Haferwurzel, Karotte, Kartoffel, Kerbelrübe, Kichererbsen, Rhabarber, Tomatillo oder Zucchini vorkommt, löst diesen Reiz aus, wenngleich in manchen Gemüsen nur verhalten und unterschwellig. Die verschiedenen Trigeminus-Rezeptoren sind je für unterschiedliche Temperaturbereiche zuständig, wie aus der Abbildung Seite 29ersichtlich ist.
Der trigeminale Reiz löst ein Wärmegefühl“ aus, das sich in Temperaturgraden beschreiben lässt: So löst Zimt ein „Wärmegrad“ von 10 °C aus, Chili von ca. 50 °C.
Beim Essen, während des oralen Prozessierens (
Seite 34), treten trigeminale Reize im Mund und in der Nase auf. Im Mund sind es a) wasserlösliche Verbindungen wie die Gallussäure, die adstringierend wirkt, und b) fettlösliche, aber nicht flüchtige Substanzen, wie die bereits erwähnten Capsaicin oder Piperin. In der Nase wirken – ortho- und retronasal – viele flüchtige Geruchsstoffe wie etwa das bereits erwähnte MENTHOL, die sowohl olfaktorisch aktiv sind als auch gleichzeitig den Nervus Trigeminus reizen. Festgestellt hat man diese Doppelwirkung der Aromastoffe bereits vor 40 Jahren, als in einem medizinischen Versuch bei 15 Patienten mit starken Beeinträchtigungen des Riechvermögens Duftstoffe getestet wurden (siehe Tabelle links). Die höchste Erkennungsrate zeigte MENTHOL, dessen kühlender Effekt klar im Vordergrund steht, selbst wenn das Riechvermögen gar nicht mehr vorhanden ist. Kaum wahrgenommen wurden hingegen PHENYLETHANOL (das sich in Gemüsepaprika, Haferwurzel, Rucola, Tomate findet), GERANIOL oder EUGENOL in geringen Konzentrationen. VANILLIN (in Cardy, Erdmandel, Gemüsepaprika, Gurke, Kochbanane, Rettich, Zucchini) wurde von keinem der Patienten über trigeminale Reize erkannt. Das liegt daran, dass VANILLIN gleichzeitig Reize am Kälte- und am Wärmerezeptor auslöst, die sich gegenseitig aufheben. Es wird somit zum „reinen Riechstoff“.
Riechstoff |
Erkennung |
Vanillin |
0 / 15 |
Phenylethanol |
1 / 15 |
Eugenol |
1 / 15 |
Geraniol |
2 / 15 |
Limonen |
6 / 15 |
Anethol |
8 / 15 |
Methylsalicylat |
9 / 15 |
Linalool |
13 / 15 |
Menthol |
15 / 15 |
Eine Besonderheit unter den trigeminalen Wahrnehmungen ist die Adstringenz. Ein Lebensmittel wirkt adstringierend, wenn es Mund und Zunge „zusammenzieht“, wie man es am ehesten wohl von Rotwein, Tee oder auch Rhabarber kennt. Manchmal wird das adstringierende Gefühl irrtümlicherweise als „bitter“ beschrieben, da sich beide Effekte oft überlagern und viele Gemüse sowohl bitter als auch adstringierend wirken. Betrachtet man die molekularen Vorgänge genauer, wird auch deutlich, warum.
CHEMOSENSORISCHE ADSTRINGENZ Für den Bittergeschmack in Lebensmitteln sind unter anderem nichtflüchtige phenolische Verbindungen verantwortlich. Diese Moleküle bestehen aus einem oder mehreren hydrophoben Phenolringen (Benzolringen), sind aber durch eine hohe Anzahl von OH-Gruppen (und ein größeres Molekulargewicht) wasserlöslich. Sie verbleiben auf der Zunge und lösen auf den Bitterrezeptoren entsprechende Geschmacksreize aus.
Die Empfindung der Adstringenz wird ebenfalls durch Phenole ausgelöst, die jedoch nicht an den Bittergeschmacksrezeptoren andocken, sondern den Trigeminusnerv reizen. Der Unterschied liegt in der Anzahl der benachbarten OH-Gruppen an den Phenolringen: Während für den Bittergeschmack jeweils lediglich zwei (oder vier) OH-Gruppen maßgeblich sind, müssen für die adstringierende Trigeminusstimulation genau drei OH-Gruppen an mindestens einem Benzolring vorhanden sein.
PHYSIKALISCHE ADSTRINGENZ Neben dieser „chemisch-physiologisch“ wahrnehmbaren Adstringenz gibt es noch einen zweiten, physikalischen Aspekt, der das zusammenziehende Gefühl im Mundraum auslöst: Phenole und Tannine treten in unmittelbare Wechselwirkung mit den Proteinen im Speichel. Speichel enthält Proteine, die quasi als „Verdickungsmittel“ den Speichel lange auf der Zunge und damit die Reibung zwischen Zunge und Gaumen angenehm gering halten. Ist durch verminderten Speichelfluss der Mund „trocken“, äußert sich dies in einer höheren Reibung zwischen Zunge und Gaumen. Speichel wirkt somit als viskoses „Schmiermittel“ im Mund. Daran sind im Wesentlichen zwei Proteintypen beteiligt, sogenannte Mucine und prolinreiche Proteine. Mucine sind hochmolekulare Glycoproteine, die aus einer langen Aminosäurenhauptkette und Seitenketten aus Zuckern (Kohlenhydraten) bestehen. Indem sich Wassermoleküle an die Zuckerketten binden, erhöht sich die Viskosität des Wassers. Mucine im Speichel sind somit der Garant für eine ausgewogene Reibung im Mund, solange sie gleichmäßig im Speichel verteilt sind. Kommen nun OH-Gruppen von nichtflüchtigen Phenolen und Tanninen ins Spiel, bilden diese Wasserstoffbrückenbindungen zu den Mucinketten. Es werden rasch Cluster gebildet, die in größeren, 10–30 Mikrometer großen Molekülaggregaten enden. Diese schweren Mikronetzwerke sind deutlich langsamer in der Diffusion, da die Diffusionskonstante mit zunehmendem (hydrodynamischem) Radius abnimmt. Durch die Aggregatbildung der Speichelproteine und die damit verbundene starke Änderung der Wasserbindung verliert der Speichel seine „Schmierfunktion“, die Reibung im Mund ist deutlich erhöht, die Zunge wird „physikalisch rau“. Diesen Effekt kann man beim Genuss von Wein, Tee und Schokolade erfahren, aber auch von Cardy und manchen (Winter-)Portulak.
Bittergeschmack – chemische und physikalische Adstringenz von Phenolen. Die Moleküle im inneren Kreis sind chemisch adstringent. Gleichzeitig sind sie in der Lage, Speichelproteine zu binden und auszuflocken, ebenso die in Grün eingekreisten Phenole. Glycoside oder phenolische Säuren flocken Speichelproteine nicht aus. Die Phenole im äußeren Kreis sind noch bitter, aber nicht chemosensorisch adstringierend. Das Verhältnis der „inneren“ und „äußeren“ Phenolen bestimmt das Bitter-Adstringenz-Verhältnis im Gemüse (chem. Adstringenz nach Schöbel et al.).
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