1 ...8 9 10 12 13 14 ...50 Der gemeinsame Nenner von umami-Geschmack und kokumi-Effekt: Sind zwei oder drei Aminosäuren (hell) noch mit der Glutaminsäure (dunkel) verbunden, wird kokumi-Mundfülle ausgelöst. Freie Glutaminsäure wird dagegen Glutamat genannt – und erzeugt den herzhaften umami-Geschmack.
KOKUMI-FOND
Die Bohnensaucen der asiatischen Küche lassen sich aufgrund ihres Eigengeschmacks nicht immer verwenden. Für eine fast neutrale Kokumikomponente kocht man eingeweichte weiße Bohnen mit Rindfleisch (im Verhältnis 1:1), ohne Salz und Gewürze, lange zusammen in sehr weichem Wasser (möglichst kalkarm), bis alles sehr weich ist. Dies lässt sich nach dem Pürieren durch ein feines Sieb streichen. Die dickliche Paste ist Verdickungsmittel, Geschmacksverstärker und Geschmacksmodulator in einem und hilft ein Gericht abzurunden. Vegetarier ersetzen das Rindfleisch durch Käse. Tipp: Durch den hohen Druck im verschlossenen Dampfdruckkochtopf und die dadurch erhöhte Gartemperatur (je nach Garstufe 109 oder 119 °C) zersetzen sich die Proteine rascher und effektiver. Außerdem bilden sich – im Unterschied zum Schmoren im Ofen – keine Röstaromen, sodass die Kokumiwürze viele Glutamylpeptide bildet, aromatisch aber neutral bleibt.
Der kokumi-Eindruck ist kein Texturmerkmal, sondern – wieder einmal – eine auf bestimmte Molekülklassen zurückzuführende Angelegenheit. Der gemeinsame Nenner aller Gerichte ist die sehr lange Koch- bzw. Reifezeit. Stundenlanges Schmoren von Eintöpfen, langes Ziehenlassen von Fonds, langes Köcheln der Bolognese, langsames Garen von mexikanischen Bohneneintöpfen, hohe Reifegrade von Käse – alles geschieht auch und vor allem, um kokumi zu erzielen. Während der langen Koch- bzw. Reifezeit findet ein Prozess statt, der in der Fachsprache Hydrolyse genannt wird: Die in allen Lebensmitteln vorhandenen Proteine zerfallen langsam in immer kleinere Teile. Es bilden sich sehr kurze Bruchstücke von Proteinen mit zwei oder drei Aminosäuren, die eine Glutaminsäure enthalten, sogenannte Glutamylpeptide. Anders als Geschmacksreize werden sie nicht über Rezeptorproteine wahrgenommen – wie der kokumi-Eindruck sensorisch wahrgenommen wird, ist bisher nicht bekannt. Sie schmecken also selbst nicht, wirken aber als Geschmacksmodulatoren und Stimulatoren und sorgen für Mundfülle und Ausgewogenheit. Insbesondere bei proteinreichem Gemüse wie Trockenbohnen, die ohnehin lang gekocht werden müssen, spielen umami und kokumi eine große Rolle.
Geschmack ist nicht alles. Um die fundamentalen Geschmacksauslöser herum sind sensorische Effekte gebaut: Etwa Kokumi, das durch Glutamylpeptide und Fettoxidationsprodukte ausgelöst wird. Adstringenz wiederum wird über Phenole (nahe Bitter) und komplexe Säuren verursacht. Seit kurzem wird sogar ein „Stärkegeschmack“ diskutiert, der kurzkettige Zucker erfassen könnte.
Einige rohe Gemüse verfügen über natürliche Mundfülle, etwa Tomaten und Zwiebeln, weil sie einen hohen Anteil an Di- und Triglutamylpeptiden besitzen. Mit proteinreichen Gemüsen – vor allem Bohnen – lässt sich der kokumi-Eindruck beim Kochen ausgezeichnet verstärken.
BOHNENSAUCEN – PERFEKTE KOKUMI-SPENDER Bei Gerichten mit kurzen Garzeiten ist kokumi immer ein kleines Problem. Daher ist es immer gut, selbst hergestellte Fonds oder Brühen auf Vorrat zu haben, die aufgrund der langen Kochzeit ausgezeichnete Grundlagen für mundfüllende runde Saucen sind.
Die asiatische Wok-Küche mit den sehr kurzen Garzeiten hilft sich daher mit Saucen auf Bohnenbasis. Schwarze-Bohnen-Paste, Schwarze-Bohnen-Sauce, Rote-Bohnen-Paste oder Gelbe-Bohnen-Sauce sind bei den kurzen Wokierzeiten die besten Garanten für eine breitere Kokumibasis. Wenn diese zur Gesamtwürzung passen, können sie auch zur Verbreiterung verwendet werden.
TRIGEMINUS – EIN UNTERSCHÄTZTER REIZ
Neben Geruchs- und Geschmackssinn gibt es noch eine dritte, fast ebenso wichtige und oft unterschätzte Sinneswahrnehmung. Sie wird oft fälschlicherweise dem „Geschmack“ zugerechnet; sensorisch ist sie jedoch eher dem „Fühlen“ zuzuordnen: die „trigeminale Wahrnehmung“.
Bei den trigeminalen Sinnen handelt es sich um „Irritationen“, die zum einen von der Temperatur ausgelöst werden und die in Extremfällen zu Schmerz führen. So wird ein warmes Gericht als angenehm empfunden, während die heiße Kartoffel oder der Löffel zu heiße Suppe starken Schmerz auslösen. Auf der anderen Seite der Temperaturskala ist es dasselbe: Ein Eis wirkt kühlend, wird es aber zu rasch gegessen oder ist das Eis so kalt, dass die Blutzirkulation keine Wärme mehr in die Zunge nachliefern kann, schlägt die Kühlung rasch in Schmerz um, obwohl noch keine „Frostschäden“ auf der Zunge stattfanden. Detektor dieser Sinnesreize ist der Trigeminusnerv, dessen Verästelungen sich nicht nur durch die Mundhöhle, den Kiefer bis zu den Augen ziehen, sondern über den ganzen Körper. Er übermittelt außer Temperatur auch groben Druck, Schmerz und Jucken. Wahrgenommen werden diese Reize als „heiß“, „kalt“, „ätzend“, beißend“, brennend“, „stechend“, „prickelnd“ und „adstringierend“, d. h. „zusammenziehend“.
Diese Reize können durch Temperaturen ausgelöst, aber auch über Moleküle geschaltet werden. Die Klassiker sind Capsaicin oder Piperine aus Pfeffer: Die wasserunlöslichen und nicht flüchtigen Moleküle verharren auf der Zunge und reizen die Rezeptoren des Trigeminus mit entsprechender Information. Die Reaktion bei „scharf“ (englisch: „hot“) ist identisch wie bei Hitze (englisch: „hot“): Der Körper versucht, durch hohen Speichelfluss und Schweißausbruch einen kühlenden Effekt zu erzeugen. Auch viele Geruchsstoffe verursachen einen mehr oder weniger starken trigeminalen Reiz, wie etwa Rauch (beißend), Essig (stechend), Zwiebel (schmerzend kalt) und Minze (kühlend). Andere wirken „prickelnd“ oder – beim Gemüse ähnlich wichtig wie beim Genuss von Wein, Tee oder Walnüssen – adstringierend. Trigeminale Rezeptorproteine in den Zellmembranen reagieren auf bestimmte Molekülstrukturen und lösen diese Reize aus.
Die Nervenendigungen des Trigeminusnervs finden sich im gesamten Mundraum.
Wie komplex die trigeminale Wahrnehmung wirklich ist, zeigt sich allein an der molekularen Struktur mancher Verursacher. Die zu Tisch beliebten Warm-Kalt-Kontraste zum Beispiel bei einer dekonstruierten Ratatouille aus gegrillten Auberginen, rohen Zwiebeln und Knoblauch, gebratenen Zucchinischeiben, heißen Kirschtomaten und einem Eis aus grünen Gemüsepaprikas werden, selbst wenn kleine Portionen aller Zutaten auf einem Löffel in den Mund genommen werden, aufgrund der Temperaturunterschiede nur noch entfernt an den als „Eintopf“ servierten provençalischen Gemüseklassiker erinnern. Natürlich spielen auch das orale Prozessieren und die Verteilung der Aromen eine große Rolle, aber vor allem ist die unterschiedliche Temperatur entscheidend. Dabei schlägt das kalte Paprikaeis in dieselbe Kerbe wie Zwiebel und Knoblauch, während Pfeffer und die warmen Zutaten zusammenspielen.
Trigeminale Temperaturreize lassen sich geschickt einsetzen – nicht nur beim Warm-Kalt-Kontrast über die „echte“ Temperatur T, sondern über chemische Reize, denn ganz bestimmte Molekülgruppen verursachen Reaktionen derselben Rezeptoren. Bei den klassischen molekular verursachten Trigeminalreizen auf der Zunge, etwa durch Capsaicin (in Chili und Paprika) oder die unterschiedlichen Alkaloide („Piperin“) der Pfeffer, ist die Lage eindeutig: Sie reizen den Rezeptor TRPV1 und führen zu dem Eindruck der erhöhten Temperatur, die beim Capsaicin rasch zum „Hitzeschmerz“ führt. (Die vielen Rezeptoren gemeinsame Abkürzung TRP steht für „transient receptor potential channels“.)
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