1 ...7 8 9 11 12 13 ...50 Die stark zerfurchte und zerklüftete Oberfläche der Zunge und die daraus resultierenden Schwankungen in der Papillendichte sind von Vorteil, denn so sind die Geschmacksreize rasch erkennbar und gleichzeitig für eine gewisse Zeit wahrnehmbar. So werden die Prüfung der Lebensmittel und ihr Genuss sichergestellt.
Im Gegensatz zu früheren Annahmen gibt es keine „Geschmackslandkarten“ auf der Zunge, also bestimmte Bereiche, in denen nur süß, bitter usw. wahrgenommen werden. Die Rezeptoren sind nahezu für alle Grundgeschmacksqualitäten in etwa gleich verteilt. Wie aber wird der unterschiedliche Geschmack wahrgenommen? Dazu sind Geschmacksknospen und Rezeptoren, die nach selektiven Mechanismen arbeiten, vonnöten.
Aufbau einer Geschmacksknospe.
An den Wänden der Papillen liegen die Geschmacksknospen, die in ihrer Form tatsächlich an Blütenknospen erinnern. Sie bestehen aus mehreren Sinneszellen, die sich in verschiedenen Segmenten anordnen. Jede Sinneszelle ist dabei durch mehrere Nervenfasern mit dem Zentralnervensystem verbunden, das Signale ins Gehirn weiterleitet, wo der Geschmacksreiz erst in die entsprechende Geschmacksqualität, also beispielsweise „süß“, „bitter“ oder „salzig“, übersetzt wird. Erkannt – oder wie Physiker sagen, detektiert – wird die jeweilige Geschmacksrichtung allerdings schon in den Geschmacksknospen durch Rezeptoren in den sogenannten Mikrovilli, fadenförmigen Ausstülpungen, die die Oberfläche und damit die „Feinfühligkeit“ der Sinneszellen in der Geschmacksknospe erhöhen. Auf der Zunge liegen auch Fadenpapillen, sie enthalten Mechanorezeptoren, die für Texturwahrnehmungen verantwortlich sind.
Verschiedene Rezeptorentypen sorgen für den guten Geschmack. Die Rezeptorproteine (komplexe und auf ganz bestimmte Weise gefaltete Biomoleküle) sind in der jeweiligen Zellmembran, einer Doppelschicht aus Phospholipiden („Emulgatoren“), verankert und übernehmen dort die Aufgabe der Grundgeschmackserkennung.
WIE FUNKTIONIEREN DIE REZEPTOREN?
Für das Erkennen von Molekülen und molekularen Eigenschaften gibt es mehrere komplizierte Mechanismen. Vereinfacht könnte man sagen: Ein Geschmacksreiz wird durch jeweils ganz bestimmte Stoffe ausgelöst – die Geschmacksstoffe –, die in einem Gemüse (oder in anderen Lebensmitteln) vorhanden sind, wobei für jeden Geschmacksreiz andere Stoffe bzw. Stoffgruppen verantwortlich sind (
Geschmack in Gemüse, Seite 48). Schmecken lassen sich nur wasserlösliche Stoffe. Dies ist, auch für die Sensorik, der fundamentale Unterschied zum Geruch. Geschmack basiert grundsätzlich auf Wasserlöslichkeit, Geruch auf Fett- (und Alkohol-)löslichkeit. Die Geschmacksstoffe werden vom Speichel gelöst und im Mundraum an den Rezeptoren vorbeigespült, bis sie zufällig an den für ihre Geschmacksrichtung „zuständigen“ Rezeptor gelangen und dort andocken. Nur dort passen sie und lösen ihren Reiz aus. Passt der Stoff nicht, reagiert der Rezeptor nicht – wie beim Geruch spricht man auch hier vom Schlüssel-Schloss-Prinzip. Die Rezeptoren sind allesamt sogenannte Membranproteine, die molekulare Eigenschaften von Molekülen an ihrem chemischen Muster erkennen.
Während sich der Aufbau der Geschmacksrezeptoren für „salzig“ und „sauer“ ähnelt, funktionieren alle anderen jeweils grundsätzlich anders. Dies liegt an der Natur der Geschmacksauslöser. Salzgeschmack wird durch Ionen ausgelöst: Kochsalz, also Natriumchlorid (NaCl), löst sich in wässriger Umgebung in positiv geladene Natriumionen (Na +) und negativ geladene Chloridionen (Cl -) auf. Sowohl die Art der Teilchen als auch die elektrische Ladung zwischen beiden wird von „Ionenkanälen“, sogenannten Kanalproteinen, wahrgenommen: Erst bei dieser Doppelbedingung reagiert der Rezeptor. Der Sauergeschmack wird durch Säuren und damit durch positiv geladene Protonen (H +) ausgelöst, die ebenfalls als kleine geladene Teilchen über Kanalproteine detektiert werden. Die für die Reize „umami“ und „bitter“ verantwortlichen Moleküle sind komplizierter aufgebaut – entsprechend komplex müssen die jeweiligen Detektoren sein. Der Umami-Geschmacksrezeptor spricht auf den Stoff Glutaminsäure an, Bittergeschmack dagegen wird von unterschiedlichen Stoffen ausgelöst. Strikt nach dem „Schlüssel-Schloss-Prinzip“ gibt es 25 verschiedene Bitterrezeptortypen, die jeweils eine bestimmte Ausprägung von „bitter“ erkennen können. Alle senden sie ihr individuelles „bitter“-Signal. Diese in der Wissenschaft als TAS2R-Rezeptorenfamilie bezeichneten Detektoren sind allerdings nicht bei allen Menschen gleich ausgeprägt. Abhängig von der genetischen Veranlagung wird „bitter“ von „Bitterschmeckern“ stärker wahrgenommen als von „Nicht-Schmeckern“. Auch das entscheidet, ob beispielsweise Brokkoli – ein Gemüse mit vielen Bitterstoffen – gemocht wird oder nicht. Für die Wahrnehmung der Geschmacksrichtungen „süß“ sind wiederum zwei Rezeptoren notwendig, die in engem Kontakt miteinander stehen. Erst wenn ein Molekül dieses „Rezeptorduett“ reizt, wird an das Gehirn der Reiz „süß“ weitergegeben.
ABSEITS DES GRUNDGESCHMACKS – KOKUMI
Oft, aber nicht zwingend verbunden mit der Geschmacksrichtung „umami“ ist ein weiterer Eindruck, der ebenfalls entscheidend zum Gesamteindruck, dem „Flavour“ einer Speise beiträgt. Dieser Eindruck wird mit dem japanischen Wort „kokumi“ bezeichnet und lässt sich vereinfacht als „Mundfülle“ übersetzen. Genau genommen umfasst „kokumi“ die Eigenschaften „Impakt“ „Mundfülle“ und „Rundheit“. Der erste Zungenkontakt, der „Impakt“, stellt so etwas wie eine Summe aller vorhandenen Geschmacksrichtungen dar und ist das Ergebnis davon, wie die Speise die Geschmackknospen „attackiert“. Dazu können sofort die Trigeminusreizungen wie scharf/heiß, kalt, brennend usw. kommen (
Trigeminus, Seite 28). Geschieht dies rasch, intensiv oder gar sehr intensiv? Alles Signale, die den ersten Eindruck festlegen. Danach wird die „Mundfülle“ wahrgenommen. Dabei bedeutet „Mundfülle“ nicht unbedingt das cremig-fettige Gefühl einer süßlichen Panna cotta, sondern eher die Wahrnehmung von lang gekochten Linsen- und Bohnengerichten, z. B. Chili con carne oder die extrem mundfüllend wirkende Avocado, pur oder in Form einer Guacamole. Eine große Mundfülle wird beispielsweise ebenso durch dünnflüssige, aber intensive Brühen, Suppen oder Saucen erzeugt. Sie können regelrecht im Mundraum „explodieren“. Weiterhin entscheiden Rundheit und Balance: Sind unangenehme Geschmacksspitzen schmeckbar, stört ein Aroma, entdeckt man ein Fehlaroma, das irgendwie dort nicht hingehört – oder ist alles rund und optimal abgestimmt? Diese Vorgänge können unter „kokumi“ zusammengefasst werden.
Nicht nur Proteinbestandteile, sondern auch verschieden oxidierte Fettsäuren, sogenannte Oxylipine, etwa bei Avocado, Chicorée und anderen fettreichen Gemüsen, sorgen für eine deutliche Mundfülle.
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