»Haben Sie ein paar gute gesehen?«
»Gute was?«
»Irgendwelche guten Vögel gestern Morgen?«
»O ja, aber leider keine, die ich nicht schon früher gesehen hätte.«
Thorne notierte sich alles. »Und können Sie sich erinnern, in welche Läden Sie gegangen sind? Wo Sie herumgestöbert haben?«
Barratt trank einen Schluck Tee. Auf Thorne machte der Mann einen leicht gereizten Eindruck, aber falls er sich fragte, warum ihm, wo er sich doch mit wichtigen Informationen an die Polizei gewandt hatte, so viele Fragen gestellt wurden, behielt er es für sich. »Eigentlich nicht«, sagte er. »Ich war in ein paar Wohltätigkeitsläden. Und kurz bei Woolworth, glaube ich.«
»Vielen Dank«, sagte Thorne und machte sich wieder Notizen. »Das ist alles sehr hilfreich. Ich komme gleich zu dem, was Sie beobachtet haben, aber ich fürchte, wir brauchen diese ganzen Details.«
»Natürlich, tun Sie sich keinen Zwang an.« Wieder nippte Barratt an seinem Tee und schaute zur Straße hinaus.
»Haben Sie etwas gekauft?«
»Wo?«
»Bei Woolworth. Oder in einem der anderen Geschäfte.«
»Nein.« Barratt lächelte. »Ich habe ein bisschen Zeit totgeschlagen.«
Thorne machte sich eine Notiz und unterstrich sie. »Warum wollten Sie Zeit totschlagen?«
»Na ja, die Wochenenden können ziemlich lang werden, um die Wahrheit zu sagen. Ja, normalerweise verbringe ich gern Zeit allein zu Hause, aber wir alle können uns hin und wieder selbst auf die Nerven gehen, nicht wahr? Eigentlich fühle ich mich am wohlsten, wenn ich arbeite.«
»Okay.«
»Wie ist es mit Ihnen?« Barratt musterte ihn über seine Teetasse hinweg. »Es sieht so aus, als würde die Arbeit Ihnen Spaß machen.«
»Manche Tage sind besser als andere«, sagte Thorne. Er ließ das Notizbuch einen Moment auf den Schoß sinken. »Ich kann nicht behaupten, dass mir ein Fall wie dieser Spaß machen würde.«
»Nein, natürlich nicht. Jedenfalls nicht, bevor Sie ihn geschnappt haben. Diesen Mann …«
Thorne sah zu, wie Barratt sich zu der rotbraunen Katze hinunterbeugte, die ins Zimmer gekommen war, und sie streichelte. Als er ihre Ohren kraulte, machte er Kussgeräusche. »Nun, wir hoffen natürlich, dass Ihre Beobachtungen uns dabei helfen.«
Barratt richtete sich wieder auf und sah ihn lächelnd an. Dann hob er die Tasse, als wolle er einen Trinkspruch ausbringen. »Ganz Ihrer Meinung.«
Natürlich hatten sie den Namen Felix Barratt durch die landesweite Datenbank der Polizei laufen lassen. Thorne wusste, dass er sich außer Falschparken nichts hatte zuschulden kommen lassen und dass sein Name nicht auf der Liste bekannter Sexualstraftäter stand. Trotzdem saß er nicht nur deswegen teetrinkend in Barratts Wohnzimmer, um sich die reichlich vagen Beobachtungen noch einmal wiederholen zu lassen, von denen der Mann am Telefon berichtet hatte.
Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Täter die Nähe zu den ermittelnden Beamten gesucht oder falsche Hinweise geliefert hätte, um Thorne und seinesgleichen in die Irre zu führen.
Ein am passenden Ort abgestelltes Fahrzeug. Ein Verdächtiger, den es nie gegeben hat.
»Ich fragte mich gerade, ob Ihnen nach dem Anruf vielleicht noch etwas zu diesem Auto eingefallen ist«, sagte Thorne. »Es war rot, sagten Sie.«
»Ja, das stimmt. Ein knalliges Rot, wie ein Briefkasten, und gründlich gewaschen.«
»Okay, das ist sehr hilfreich.«
»Wie ich Ihrem Kollegen am Telefon schon sagte: Es war so ein kleines Auto, wie ein Golf.«
»Oder ein Fiesta?«
»Ja, genau. Ich kenne mich nicht besonders gut aus, aber das Auto war irgendwie sportlich.«
»Sonst noch etwas? Irgendwelche Auffälligkeiten? Beulen oder Kratzer?«
»Nein, jedenfalls habe ich keine gesehen«, sagte Barratt. »Ich war auf der anderen Straßenseite.«
»Was ist mit dem Mann, den Sie haben einsteigen sehen?« Thorne schaute in seine Notizen und fand die Beschreibung, die Barratt bei der Hotline angegeben hatte. »Mittelgroß, dunkle Jacke … Wissen Sie, ob er dunkle Haare hatte, oder blonde …?«
»Er trug eine Mütze«, sagte Barratt. »Ich meine keine Wollmütze oder so etwas, schließlich war es auch nicht besonders kalt, stimmt’s? Eher eine Art Kappe, aber auch keine Baseballkappe oder etwas in der Art.« Er machte eine Pause, um nach dem richtigen Begriff zu suchen. »Sie wirkte irgendwie flott.«
»Und wenn Sie sein Alter schätzen müssten?«
Barratt blies die Wangen auf. »Ich bin wirklich nicht sicher. In den Vierzigern vielleicht?«
»Und der Junge?«
Barratt lehnte sich zurück. Die Katze strich ihm immer noch um die Füße herum. »Nun, wie gesagt, er war sechs oder sieben, denke ich. Das kann man so genau nicht sagen, oder? Manche Kinder sind in einem bestimmten Alter größer als andere.«
»Können Sie sich noch immer nicht erinnern, was der Junge anhatte?«
»Nein, und ich habe mir wirklich den Kopf zerbrochen. Es ist komisch: Der Mann ist mir im Gedächtnis geblieben, der Junge aber nicht.«
Thorne sagte, das sei kein Problem, die Leute würden sich immer an bestimmte Einzelheiten erinnern und andere nicht deutlich wahrnehmen. Im Stillen aber fand er es ein bisschen seltsam, dass Barratt den auffälligen Parka mit Schottenmuster und Fellkapuze, den der Junge getragen hatte, nicht registriert hatte. Aber natürlich war es gut möglich, dass der Junge, den Barratt gesehen haben wollte, etwas wesentlich Unauffälligeres getragen hatte, einfach, weil es nicht Kieron Coyne gewesen war.
»Das war alles im Vorbeigehen«, sagte Barratt. »Ich habe es kaum richtig wahrgenommen … Erst als ich den Handzettel mit der Bitte um Informationen gesehen habe, ist es mir wieder eingefallen.«
»Gut.«
»Ich hatte den Eindruck, sie gehörten irgendwie zusammen, daran erinnere ich mich, denn der Junge hielt die Hand des Mannes.« Barratt beugte sich vor. »Sie kannten sich, so sah es jedenfalls aus. Das ist doch sicher wichtig, oder?«
Thorne stand auf und bedankte sich bei Barratt für die Hilfe und für den Tee. »Nur um diesen Punkt noch einmal klarzustellen: Sie haben das Flugblatt an der Anschlagtafel gesehen, als Sie gleich heute Morgen noch einmal in den Wald gegangen sind?«
Barratt erhob sich ebenfalls und sah seiner weglaufenden Katze hinterher. »Wie gesagt, die Wochenenden sind manchmal ein bisschen öde. Die Sonntage noch mehr als die Samstage.«
Auf dem Weg zur Tür warf Thorne einen letzten Blick auf den verglasten Schrank. Er nahm sich vor herauszufinden, wie viele Vogelarten man im Alexandra Park beobachten konnte.
Die Frau, die Catrin aufs Sofa half und ihr ein kleines Päckchen Papiertaschentücher reichte, war dünn und hochgewachsen, ihre stachligen blonden Haare an den Ansätzen dunkel. Sie trug hautenge stonewashed Jeans und ein Jeanshemd, darüber eine schwarze Bomberjacke. Ihre hohen Wangenknochen und feinen Gesichtszüge wirkten eindrucksvoll, aber ungeschminkt waren die Schatten unter ihren großen Augen ebenso unübersehbar wie die Furchen rings um ihren Mund, die normalerweise als Lachfalten durchgingen. Dabei konnte man sie kaum als Frau bezeichnen, die häufig lachte.
Fünfzehn Jahre zuvor, in einer anderen Welt, wäre sie vielleicht Model geworden, aber im nördlichen Teil Londons des Jahres 1996 bekam Angela Coyne einen Laufsteg allenfalls dann zu Gesicht, wenn sie die Cosmopolitan aufschlug. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie mit dem Verkauf von preisreduzierten Haushaltswaren an einem Marktstand in Shepherd’s Bush.
»Hat Billy es dir erzählt?« Cat hatte am Abend zuvor im Gefängnis angerufen, woraufhin sich Billy eine halbe Stunde später zurückgemeldet hatte. Sie tupfte sich die Augen ab. »Er klang so erschüttert.«
Billy Coynes große Schwester nickte. Sie hatte die Nase hochgezogen, zu weinen aufgehört und sich mit dem Handrücken das Gesicht trocken gerieben, sobald sie in die Wohnung marschiert war. »Ja, er hat vor zwei Stunden angerufen, aber ich wusste schon vorher Bescheid. Die Polizei war heute früh an meinem Stand und hat mir Fragen gestellt. Wann ich Kieron zuletzt gesehen hab, was ich gestern zur Mittagszeit gemacht hab, alles Mögliche.«
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