Für diese Aufgabe meldeten sich reichlich Freiwillige.
Boyle musste noch erläutern, welcher Ermittlungsansatz im Augenblick der vielversprechendste war, und diesen Punkt hatte er sich offenbar für den Schluss aufgehoben. Er schien die Neuigkeit unbedingt loswerden zu wollen, von der er Thorne schon vor einer halben Stunde in Kenntnis gesetzt hatte.
»Heute Morgen hat ein Zeuge angerufen, nachdem er eins unserer Flugblätter gesehen hat. Er hat gestern Vormittag, ungefähr zu der Zeit, als Kieron Coyne verschwunden ist, einen Mann und einen Jungen in Kierons Alter beobachtet, wie sie an der Archway Road in ein Auto gestiegen sind.« Er sah Ajay Roth dabei zu, wie er durch den Raum ging und Kopien verteilte. »Wie Sie sehen, haben wir kein Kennzeichen und keine allzu detaillierten Hinweise, aber natürlich ist die Aussage äußerst wichtig für uns. Vor allem, weil der Zeuge den Eindruck hatte, dass der Junge freiwillig in den Wagen gestiegen ist.« Boyle ließ die Information einen Augenblick wirken. »Wir müssen uns also offensichtlich die Frage stellen, ob der vermisste Junge den Mann kannte.«
Ein Detective im hinteren Teil des Raums sagte: »Ein Grund mehr, mit dem Vater zu reden.«
»Exakt«, sagte Boyle. »Könnte dieser Mann ein Freund oder Bekannter des Vaters sein? Jemand, der dem Jungen schon früher begegnet ist? Also: Das Auto ist die Spur, auf die wir uns am meisten konzentrieren müssen.«
In den vorderen Reihen meldete sich jemand zu Wort, und Thorne bemerkte, dass mehr Köpfe als üblich gehoben wurden. DS Paula Kimmel war die einzige weibliche Ermittlerin im Team – eine mehr als beim letzten großen Fall, an dem Thorne beteiligt gewesen war. Wie viele andere auch hatte er die vor wenigen Jahren ausgestrahlte TV-Serie mit Helen Mirren für den Vorboten einer steigenden Anzahl von Frauen in den höheren Diensträngen gehalten. Vielleicht stimmte das bei den Uniformierten, doch bei der Kriminalpolizei hatte Thorne noch keine bedeutende Veränderung wahrgenommen.
»Gibt es auf der Archway Road irgendwelche Überwachungskameras?«, fragte Kimmel.
Diese Frage hörte Thorne immer häufiger, auch wenn er bisher kaum Anzeichen für einen Erfolg der Überwachung gesehen hatte. In den Zentren vieler größerer Städte des Landes waren inzwischen Kameras installiert, mit denen allerdings überwiegend kleinere Vergehen wie Diebstahl und Falschparken verfolgt wurden. Die Befürworter der Kameras nannten sie hilfreich im Kampf gegen Drogenmissbrauch und sonstiges unsoziales Verhalten, andere glaubten, dass diejenigen, die schwerwiegendere Verbrechen begehen wollen, einfach ihre Sachen packen und es woanders tun würden.
»Leider nicht«, sagte Boyle.
Der Beamte neben Thorne schüttelte den Kopf und sagte: »Immer, wenn man die Dinger brauchen könnte, sind keine da, stimmt’s?«
Thorne wusste, dass es Pläne gab, das zu verändern. John Majors Regierung hatte angekündigt, drei Viertel ihres jährlichen Budgets zur Verbrechensverhütung für die Installation neuer Kameras zu verwenden, doch Thorne blieb skeptisch. Die Leute, die die entsprechende Ausrüstung herstellen, würden sich natürlich dumm und dämlich verdienen, doch er glaubte nicht, dass Überwachungskameras in absehbarer Zeit die altmodischen Methoden – Grips und Schuhsohlen – ersetzen würden. Jedenfalls nicht bei umfangreicheren Ermittlungen.
»Wir müssen mehr über dieses Auto erfahren«, sagte Boyle. »Bis jetzt wissen wir, dass es rot war, und klein, möglicherweise mit Heckklappe. Es könnte sich also um einen Fiesta oder einen Golf handeln … Diejenigen von Ihnen, die eine hohe Toleranzschwelle in Sachen Langeweile haben, können sich in den nächsten Stunden damit vergnügen, beim zentralen Fahrzeugregister anzurufen und sich eine Liste aller infrage kommender Autos zu besorgen.« Er sah, wie Blicke gewechselt wurden, und nickte. »Aye, ich weiß, dass es um eine verdammt lange Liste geht, tja, aber so ist es nun mal. Der Rest von Ihnen macht sich auf und klappert noch einmal das fragliche Straßenstück ab. Wir gehen noch mal von Haus zu Haus und achten darauf, dass wir mit jedem sprechen, der gestern nicht da war. Wenn Sie das Auto erwähnen, hilft das vielleicht der einen oder anderen Erinnerung auf die Sprünge. Oh, und wenn Sie den Leuten einen Anhaltspunkt für die Uhrzeit geben müssen, erwähnen Sie einfach das Fußballspiel.« Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Weiß noch jemand, wie es ausgegangen ist?«
Nickend nahm er die Flüche und Zwischenrufe zur Kenntnis, dann hob er die Hand, um den Aufruhr zum Schweigen zu bringen.
»Dasselbe gilt auch, wenn Sie noch einmal mit den Leuten sprechen, die gestern im Wald schon Aussagen gemacht haben. Die Beschreibung des Mannes, der mit dem Jungen gesehen wurde, ist leider genauso vage wie die des Autos, aber auch hier könnte eine Erinnerung wachgerufen werden … So viel für den Moment.« Boyle deutete auf den Kollegen, dem die Rolle zugewiesen worden war, die Aufgaben zu koordinieren. »Terry hat sämtliche Details.« Er vergewisserte sich mit einem Blick zu Andy Frankham, der an einer Wand lehnte, dass dieser nichts hinzuzufügen hatte. Dann wandte er sich wieder ans Team, das bereits unruhig zu werden begann.
»Also dann, bewegt euch!«
Thorne wartete auf dem Gang, neben dem kleinen Büro, das er mit einem DS teilen würde, der von einem örtlichen Team zur Unterstützung abgestellt worden war. Russell Brigstocke war über eins achtzig groß und kräftig gebaut, hatte dichtes schwarzes Haar und eine dicke schwarze Brille, sodass er wie Buddy Holly auf Anabolika wirkte.
»Wie stehen die Chancen?«, fragte Brigstocke.
»Was meinen Sie? Dass die ganze Sache was mit Catrin Coynes Typen zu tun hat?« Thorne schüttelte den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Ich auch nicht, aber wahrscheinlich müssen wir alle Eventualitäten in Betracht ziehen.« Brigstocke warf ihm einen fragenden Blick zu. »Aber das hab ich nicht gemeint.«
Thorne erwiderte den Blick. Ihm war klar, dass er Brigstockes eigentliche Frage nicht beantwortet hatte. Bei einem einigermaßen »normalen« Fall hätte längst jemand angefangen, heimlich Wetten auf ein gutes Ergebnis anzunehmen und die Quoten anzupassen, je nachdem, welche Fortschritte das Team machte. Das galt auch für die Frage, ob letztendlich jemand vor Gericht gestellt würde. Dann sammelten sich die Zehner und Zwanziger in einer Keksdose, ein kleiner zusätzlicher Ansporn.
Aber nicht, wenn Kinder betroffen waren.
Nicht nach dem Fall James Bulger vor drei Jahren und ganz sicher nicht nach den Morden an sechzehn Kindern in Dunblane vor wenigen Monaten.
Aberglaube oder Sentimentalität? Polizisten neigten zu beidem, aber für Thorne spielte die Frage ohnehin keine große Rolle. Seiner Meinung nach halfen Gedanken darüber, wie die Chancen auf einem positiven Ausgang stehen mochten, letztlich niemandem. Am allerwenigsten denjenigen, die von diesem Ausgang persönlich betroffen waren.
»Weiß der Himmel«, sagte er.
Brigstocke nickte. Beide drehten sich um, als Gordon Boyle in der Tür auftauchte. »Was ist denn hier los? Müttergruppe?«
Thorne versuchte, so zu tun, als fände er die Bemerkung des DIs witzig. Aber er war nicht sicher, ob es ihm gelang, die entsprechende Miene aufzusetzen.
Tatsächlich hatte er gerade an die Mütter gedacht.
Wie schon mehrmals an diesem Morgen atmete Cat tief durch und betete still zu einem Gott, an den sie kein bisschen glaubte. In den wenigen atemlosen Sekunden, bevor sie das Zimmer durchquerte und sich den Telefonhörer schnappte, spürte sie, wie sich jeder Muskel in ihrem Körper anspannte.
»Cat? Ich bin’s …«
Maria. Scheiß Maria.
Einen Moment lang war Cat erleichtert, dass es nicht der Anruf war, vor dem sie sich die ganze schlaflose Nacht lang gefürchtet hatte. Dann aber folgte eine – noch stärkere – Mutlosigkeit, weil es auch nicht der Anruf war, auf den sie verzweifelt gehofft hatte. Beide Gefühle wichen der Wut darüber, dass Maria ihre Zeit vergeudete, sie ablenkte; dass sie eine Telefonleitung blockierte, die Cat unbedingt frei halten musste.
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