1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Himmel, was machte sie sich eigentlich für Gedanken?
Das alles war meilenweit von dem entfernt, was Cat im Moment durchmachen musste. Sicher lagen überall die Sachen ihres Sohnes herum, sein Geruch war überall in der Wohnung. Und dann daran denken zu müssen, dass er allein dort draußen im Wald war oder … wo auch immer. Noch schlimmer, daran denken zu müssen, dass er vielleicht nicht allein war.
Wieder griff Maria nach der Flasche, doch sie war leer.
Es war nicht ihre Schuld.
»Mummy …«
Sie atmete überrascht ein, dann drehte sie sich um und sah Josh in der Tür stehen. Wieder war er den Tränen nahe, seine dicke Unterlippe bebte. Bis zum heutigen Tag hatte dieser Gesichtsausdruck eigentlich immer bedeutet, dass er etwas wollte. Meistens eine weitere Gutenachtgeschichte.
»Ich glaube, ich kann besser schlafen, wenn ich in dein Bett komme«, sagte er.
Das hatte er schon lange nicht mehr gewollt.
»Dann komm, mein Hühnchen«, sagte Maria. »Packen wir dich gut ein.«
Auf dem Weg zur Treppe nahm Josh ihre Hand und sagte: »Ich hab darüber nachgedacht. Vielleicht hat Kieron es einfach verwechselt. Wer mit Suchen dran war, meine ich.«
»Ja, vielleicht hast du recht«, sagte Maria.
Der Junge nickte zufrieden, als hätte er ein schwieriges Rätsel gelöst. Er streckte ihr die freie Hand entgegen. Nach kurzem Zögern bückte Maria sich und klatschte ihn ab. »Wahrscheinlich hockt er noch immer in seinem Versteck, das ist es.«
Catrin Coyne wohnte in einer Dreizimmerwohnung an der Holloway Road, wenige Minuten südlich der U-Bahn-Station Archway, in der sechsten von insgesamt zwölf Etagen des Seacole House.
Anderthalb Kilometer von Highgate Village entfernt, aber in einer ganz anderen Welt.
Sie betrat den Aufzug, drehte sich um und sagte: »Ich denke wirklich nicht, dass es nötig ist, dass Sie mit reinkommen. Ich komme allein zurecht.« Auf der Fahrt von Islington hierher hatte sie kein Wort gesprochen, sondern zusammengesunken auf dem Beifahrersitz von Thornes Cavalier gesessen und angestrengt aus dem Fenster geschaut, als hoffe sie, irgendwo dort draußen auf den dunklen Bürgersteigen ihren Sohn zu entdecken.
Thorne drückte den Knopf, und die Türen schlossen sich klappernd. »Wir leisten Ihnen besser noch einen Moment Gesellschaft.«
»Ich verspreche, dass ich mich nicht aus dem Fenster stürzen werde.«
»Gut zu hören«, erwiderte Roth.
Keiner sprach ein weiteres Wort, bis Catrin sie einige Minuten später in ihr Wohnzimmer führte. Sie stellte sich mit dem Rücken zum an die Wand montieren Heizlüfter und starrte sie an. »Und?«
»Ist es in Ordnung, wenn ich mich kurz umsehe?«, fragte Roth.
»Was?« Catrin blickte von Roth zu Thorne und wieder zurück. »Warum?«
Der DC räusperte sich und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Er musste seinen Job erledigen, bemühte sich aber sichtlich, Thornes Mahnung ernst zu nehmen und möglichst behutsam vorzugehen. »Wir müssen das tun. Es bedeutet nicht …«
»Glauben Sie, dass Kieron allein nach Hause gekommen ist?«
»Nein.«
»Glauben Sie, dass er sich unter dem Bett versteckt?«
»Es ist ein Punkt, den wir abhaken müssen«, sagte Thorne. »Das ist alles.«
Catrin betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Vielleicht glauben Sie ja, ich hätte mir das alles ausgedacht. Dass wir Sie bloß verarschen und Kieron die ganze Zeit hier gewesen ist.«
»Natürlich nicht.«
»Dass er … gefesselt in einem scheiß Schrank liegt oder so was.«
Thorne merkte, dass Catrin Coyne wütend wurde, und er konnte ihr keinen Vorwurf machen. Er wusste so wenig wie sie, wo Kieron Coyne sich im Moment aufhielt, aber er war ganz sicher nicht hier. Andererseits hatte es tatsächlich Fälle gegeben, in denen Eltern ihre Kinder böswillig als vermisst gemeldet hatten. Es war sogar vorgekommen, dass dabei düstere Motive eine Rolle gespielt hatten. Dass es zum Beispiel darum ging, Verletzungen – oder Schlimmeres – vor der Außenwelt zu verbergen, die die Kinder zu Hause erlitten hatten. Deshalb mussten diese Möglichkeiten so schnell wie möglich ausgeschlossen werden.
»Nur ein Punkt, der abgehakt werden muss«, wiederholte er.
»Ich verspreche Ihnen, dass ich schnell mache.« Roth warf einen Blick Richtung Flur. »Ich bringe auch nichts durcheinander.«
Als Catrin nickte, verließ er das Zimmer.
»Das ist lächerlich.« Sie löste sich von der Wand und ließ sich auf ein Ledersofa fallen.
»Im Wesentlichen geht es darum, dass wir uns absichern.« Thorne trat zu dem Sessel ihr gegenüber. Sie murmelte etwas Zustimmendes, woraufhin er sich auf der Kante niederließ und sich zu ihr vorbeugte.
»Manches, was wir tun, mag nicht allzu … mitfühlend wirken, aber es muss wirklich sein.«
Sie nickte erneut und lehnte sich zurück. Inzwischen sah sie noch erschöpfter aus als im Vernehmungsraum des Reviers.
»Auf längere Sicht ist es besser so, verstehen Sie?«
»Ich will keine längere Sicht«, sagte sie. »Ich will, dass es erledigt wird. Ich will, dass einer von Ihren Leuten jetzt gleich an der Tür klingelt und Kieron auf dem Arm hat.« Sie schien den Tränen nahe, wischte sich aber trotzig mit dem Handrücken die Augen. »Ich will ihn hier haben. Ich will ihn zu Hause haben.«
»Natürlich wollen Sie das.«
»Ihre längere Sicht ist das, wovor ich Angst habe.«
Thorne hörte Musik – das stotternde Dröhnen einer Basslinie – aus der Wohnung über ihnen. Und Roth, der sich in einem der Zimmer zu schaffen machte. »Wir müssen Sie um eine DNA-Probe bitten.«
Mit einem Ruck setzte sie sich auf. »Warum zum Teufel brauchen Sie meine DNA?«
»Eine Probe von Kieron.« Thorne sah, wie ihr Gesicht sich vor Angst verzerrte, als sie sich einen Moment lang vorstellte, was sie am Ende der »längeren Sicht« erwarten könnte. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir seine Zahnbürste mitnehmen?«
Sie beugte sich vor und löste ihre Schnürsenkel. »Tun Sie, was Sie tun müssen.«
»Auch ein aktuelles Foto wäre hilfreich, falls Sie eins haben. Zum Aushängen und für die Zeitungen.«
Catrin kickte ihre Stiefel von den Füßen, stand auf und ging wortlos die Gegenstände holen, nach denen Thorne gefragt hatte. An der Tür kam sie an Roth vorbei, der ins Wohnzimmer trat und den Kopf schüttelte, um Thorne wissen zu lassen, dass er nichts gefunden hatte, worüber sie sich Gedanken machen mussten.
Punkt abgehakt.
»Sie holt die Sachen für uns.« Thorne senkte die Stimme. »Sie können übrigens ruhig schon fahren, wir sehen uns dann später im Büro.« Mit einem Blick auf Roths fragende Miene fügte er hinzu: »Ich glaube, ich bleibe noch ein bisschen hier.«
»Ernsthaft? Ich denke nicht, dass das nötig ist …«
»Trotzdem.«
Als Catrin zurückkam, nahm Roth das Foto und die Zahnbürste, die sie in einen Gefrierbeutel gesteckt hatte. Er bedankte sich und sagte, sie solle auf sich aufpassen. Dann erklärte er Thorne, er habe Ms Coynes Telefonnummer und werde sie anrufen, sobald sich etwas Neues ergebe.
Thorne folgte ihm bis zur Wohnungstür.
»Bringen Sie die Zahnbürste ins Labor und sorgen Sie dafür, dass sich die Jungs von der Pressestelle mit dem Foto beeilen.«
»Schon so gut wie erledigt.« Roth ging hinüber zum Aufzug und drückte den Knopf. »Hören Sie … was ich noch sagen wollte.« Er drehte sich wieder um und machte ein paar Schritte auf Thorne zu. »Dieser ganze Mist mit Boyle, dieses Händeschütteln und diese Anspielungen auf Ihr Bauchgefühl und so weiter. Er will Sie bloß ein wenig aufziehen. Das ist Ihnen hoffentlich klar, oder? Niemand will damit irgendetwas sagen.«
Thorne schaute ihm ins Gesicht. Er sagte: »Wahrscheinlich ist es für morgen zu spät, aber am Montag muss das Foto des Jungen in den Zeitungen sein.«
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