1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Eine Weile versuchen, eine Weile scheitern.
So tun, als hätte man vergessen, dass man es überhaupt versucht hat.
Weitermachen, als wäre es letztlich nicht wichtig.
Thorne drückte den schnellen Vorlauf und musste unwillkürlich grinsen, als er die Spieler wie Verrückte hinter dem Ball herrennen sah. Vor dem späten Elfmeter der Schweizer schaltete er auf normale Geschwindigkeit zurück. Er bekam von alldem nicht mehr viel mit. Stattdessen saß er ruhelos im Sessel und fühlte sich nicht annähernd so müde, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Ihm war klar, dass eine Dose schwaches Lager nicht viel bringen würde, weshalb er aufstand, in die Küche ging und eine zweite holte.
Er fragte sich, ob Catrin Coyne dieselben Schlüsse gezogen hatte, zu denen er und seine Kollegen vor einigen Stunden gelangt waren. Auch wenn es unausgesprochen geblieben war und sich daran zumindest bis morgen nichts ändern würde, ging das Team schon von der Vermutung aus, dass Kieron Coyne in absehbarer Zeit nicht einfach wiederauftauchen würde.
Dass er sich weder verlaufen hatte noch sich versteckte.
Dass sie nach einem vermissten Kind und einem oder mehreren Entführern suchten.
Thorne vermutete, dass auch Catrin es so sah. Er glaubte, es in ihren Augen gesehen zu haben, in dem Moment, als er die DNA-Probe erwähnt hatte und jeglicher Kampfgeist aus ihr gewichen war. Er hatte es gespürt, als sie ihr Gesicht gegen seine Jacke gedrückt und sich an den Sofakissen festgeklammert hatte.
Thorne ging zurück Richtung Wohnzimmer, blieb aber in der Tür stehen. Er lehnte sich an den Rahmen, öffnete die Dose und starrte auf den Fernseher. Er mochte es, von hier aus zuzusehen.
An derselben Stelle hatte er vor ein paar Monaten gestanden und die unglaublichen Szenen in den Nachrichten beobachtet, als Take That ihre Auflösung angekündigt hatten. Das Heulen, die Hysterie, die Anrufe bei Suizid-Hotlines. Als er jetzt daran zurückdachte, schüttelte er den Kopf. Wenn diesen jungen Leuten in ihrem Leben kein schlimmerer Schmerz mehr bevorstand, konnten sie wahrhaftig von Glück reden.
Im Studio quasselten Des Lynam und die in Anzügen steckenden Experten, während im Hintergrund die Menge im Stadion, vom Endresultat offenbar nicht entmutigt, wieder diesen verdammten Song grölte.
Es war alles bloß Lärm.
Thorne blieb noch eine Weile stehen, trank und dachte an Catrin Coyne. Wie das Leid sich bei ihr einnisten und es sich mehr oder weniger gemütlich machen würde, bis es zu etwas wurde, mit dem sie einfach lebte. Welche Richtung ihr Leben nehmen würde, wenn sie den Entführer ihres Sohnes nicht schnappten. Wenn sie Kieron nie wiedersehen würde.
Dreißig Jahre Schmerz.
Im zweiten Stock des Reviers Islington war die Einsatzzentrale eingerichtet worden. Der schmale, fensterlose Raum erfüllte unter normalen Umständen seinen Zweck, doch jetzt wurde er plötzlich von dreißig Ermittlern genutzt und war eindeutig überfüllt.
»Hier kann man sich ja kaum umdrehen.«
Der nörgelnde DC – der im allerletzten Moment und mit brauner Soße auf der Krawatte zur sonntäglichen Einsatzbesprechung gekommen war – wollte schon zu einer längeren Tirade ansetzen, als sein Blick auf das große Whiteboard am Ende des Raums fiel und er es sich anders überlegte. Dort hing ein Foto der Mutter des vermissten Kindes, unter das jemand mit Filzstift ihren Namen sowie ihren Spitznamen gekritzelt hatte.
Er setzte sich zu den anderen und zog sein Notizbuch aus der Tasche.
Ungefähr ein Dutzend Arbeitsplätze waren dicht zusammengeschoben worden, wobei einige der Schreibtische von riesigen Computerterminals beherrscht wurden. Auf anderen standen Faxgeräte. Eine Ecke des Raums war für das Home Office Large Major Enquiry System reserviert, das eine zentrale Rolle bei den Ermittlungen spielen würde. In diese HOLMES-Computer würde jede einzelne Aussage eingespeist, jeder Bericht, jede neue Erkenntnis. Das alles würde verschlagwortet und mit anderen Informationen abgeglichen werden. Das System sollte dafür sorgen, dass zu jedem Zeitpunkt der Ermittlungen die rechte Hand wusste, was die linke gerade tat. Darüber hinaus eröffnete es die Möglichkeit, bei Bedarf andere Polizeidienststellen einzubinden und jedem kleinsten Informationshäppchen die angemessene Bedeutung zuzuweisen. Vor allem war das System zu dem Zweck eingerichtet worden, die kopflose Inkompetenz zu vermeiden, die vor fünfzehn Jahren nach den Ermittlungen im Fall des Yorkshire Rippers ans Tageslicht gekommen war.
HOLMES sollte zur Bibel für jeden Ermittler werden.
Zu seinem Gebetbuch.
Pünktlich um neun rief Ajay Roth: »Okay, alle zusammen«, und DCI Andy Frankham erhob sich zur Predigt.
»Ich hoffe, dass ich nur ein einziges Mal hier vor Ihnen stehen muss«, erklärte er. »Dass wir hier möglichst bald wieder wegkönnen. Ich wäre verdammt glücklich, wenn wir diesen Raum morgen dichtmachen und zu unseren anderen Fällen zurückkehren können. Aber solange diese Ermittlung läuft, dürfen wir niemals vergessen, worum es geht. Keine einzige Sekunde lang, klar? Um wen es geht.«
Frankham drehte sich um und deutete auf das größte Foto auf dem Whiteboard. Eine Vergrößerung der Aufnahme, die Roth am Abend zuvor von Catrin Coyne bekommen hatte.
Der DCI ließ seinen Leuten ein paar Sekunden, um sich das Bild gründlich anzuschauen.
Catrin oder Maria, vielleicht auch beide, hatten es am Tag zuvor erwähnt. Trotzdem war Thorne genauso verblüfft wie beim ersten Blick auf das Foto, wie ähnlich Josh Ashton und Kieron Coyne sich sahen. Kein Wunder, dass sie Freunde waren, dachte er.
Sie hätten auch Brüder sein können.
Frankham sprach ein, zwei Minuten über die Dringlichkeit und über die Entschlossenheit, die sie angesichts eines Verbrechens wie diesem demonstrieren mussten. Er betonte seine Zuversicht, dass sie Kieron Coyne und seine Mutter nicht im Stich lassen würden. Dann rief er Gordon Boyle nach vorn und sagte, er solle übernehmen.
Der Schotte begann Verantwortlichkeiten zu verteilen. Den Kollegen, die Vollzeit mit HOLMES arbeiten sollten, wies er verschiedene Rollen zu. Informationen sammeln, Aufgaben delegieren, analysieren, Berichte lesen. Ein Detective wurde zum Verbindungsmann mit dem Rest der Truppe bestimmt, zwei andere sollten den Kriminaltechniker-Teams helfen, die das Waldgebiet zwischen dem Spielplatz und dem Archway-Eingang durchforsteten. Nach der Ankündigung, dass beide Mütter erneut befragt werden mussten, schickte er zwei DCs nach Milton Keynes, um Catrin Coynes Partner im Whitehill-Gefängnis einen Besuch abzustatten.
»Für diejenigen von Ihnen, die es nicht wissen: Diese Einrichtung ist speziell darauf ausgerichtet, einige besonders gefährliche Männer zu beherbergen«, sagte er. »Männer mit Problemen. Es kann also nicht schaden, Billy zu überprüfen. Und wenn Sie schon da sind, überprüfen Sie auch die Leute, mit denen er dort zu tun hat. Lassen Sie uns sehen, ob er jemanden wütend gemacht hat, der sich möglicherweise rächen will und seine Familie aufs Korn nimmt.«
»Was ist mit dem Typen, den er beinahe totgeschlagen hat? Der arme Kerl könnte auch Lust haben, sich zu rächen.«
»Genau, darauf wollte ich noch kommen.« Boyle deutete auf den Beamten, der die Frage gestellt hatte. »Finden Sie ihn und stellen Sie fest, was er gestern gemacht hat.« Er warf einen Blick auf seine hingekritzelten Notizen. »Es versteht sich von selbst, dass wir schon dabei sind, eine Liste der bekannten Sexualstraftäter zusammenzustellen. Die müssen wir durchgehen und Prioritäten setzen. Ganz oben auf die Liste kommen alle, die sich jemals ein Kind geschnappt haben. Alle, die auch nur ein Kind angeschaut haben, klar? Also, klopfen Sie an Türen und kontrollieren Sie, wo die Leute zur Tatzeit waren. Und bemühen Sie sich nicht allzu sehr um Höflichkeit.«
Читать дальше