Mark Billingham - Ein Herz und keine Seele

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Sarah ist eine ganz normale Mutter. Morgens fährt sie ihren sechsjährigen Sohn Jamie zur Schule, nachmittags holt sie ihn wieder ab. Dabei trifft sie immer dieselben Eltern vor dem Schultor und tauscht sich mit ihnen über die Kinder aus. Sarah gehört dazu – doch sie hat ein dunkles Geheimnis, das niemand erfahren darf.
Detective Tom Thorne wird gerufen, um den Tod einer Frau zu untersuchen, die sich vor einen Zug geworfen hat. Thorne könnte den Selbstmord eigentlich schnell zu den Akten legen, ihn beschleicht jedoch das ungute Gefühl, dass mehr dahintersteckt als es zunächst den Anschein hat. Seine Ermittlungen geben ihm recht: Die Frau ließ sich auf einen Betrüger ein, der erst ihr Herz und dann ihre gesamten Ersparnisse stahl.
Dieser Mann begegnet nun Sarah. Ihr Zusammentreffen setzt eine teuflische Entwicklung in Gang – und konfrontiert nicht nur Thorne mit der erschütternden Frage: Wie weit gehen Menschen, um anderen ihre Liebe zu beweisen?

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Mark Billingham

Ein Herz und keine Seele

Thriller

Aus dem Englischen von Stefan Lux

Ein Herz und keine Seele - изображение 1

Für Michael. Vorwärts und aufwärts …

Es ist meine Überzeugung, dass die aus der Liebe erwachsenden Probleme – Verblendung, Eifersucht, Kummer, Verletzung, unangemessene Anziehung und Sucht, um nur wenige zu nennen – ernsthafte Aufmerksamkeit verdienen und dass die Grenze, die zwischen der normalen und der abnormen Liebe liegt, häufig fließend ist. Der kleinste Funken sexueller Anziehung kann ein Feuer auslösen, das die Macht hat, uns zu verzehren …

Dr. Frank Tallis, Der unheilbare Romantiker und andere Geschichten aus der Psychotherapie

I want you,

The truth can’t hurt you, it’s just like the dark,

It scares you witless,

But in time you see things clear and stark,

I want you,

Go on and hurt me, then we’ll let it drop,

I want you,

I’m afraid I won’t know where to stop …

Elvis Costello, I Want You

TEIL EINS DAS BETT UND DER STRAND

EINS

Tom Thorne sah zu, wie der Sack mit der Leiche der Frau so vorsichtig wie möglich von den Gleisen auf den Bahnsteig gehoben wurde. Das verräterische Durchhängen in der Mitte war nicht zu übersehen. Dorthin waren die vom Rumpf abgetrennten Körperteile gerutscht, dort hatte sich die Flüssigkeit gesammelt.

Was von der Toten übrig war …

Er sah, dass Detective Dipak Chall sein Gespräch mit einem Beamten der British Transport Police beendete und über den Bahnsteig auf ihn zukam. Er hatte einen durchsichtigen, von innen beschmutzten Plastikbeutel in der Hand. Vorsichtig hielt er ihn hoch, sodass Thorne den Inhalt betrachten konnte.

Eine braune Lederhandtasche, Schlüsselbund, Handy.

»Wir haben einen Namen«, sagte Chall.

Thorne hatte heute seine Schicht beim Homicide Assessment Team abzuleisten, einer mobilen Einheit, die zu jedem Schauplatz eines plötzlichen Todesfalls geschickt wurde, um zu entscheiden, ob die Umstände verdächtig waren und weitere Ermittlungen verlangten. Sobald das abrufbereite HAT von den Streifenpolizisten angefordert wurde, machten die Beamten – in diesem Fall Thorne und Chall – sich auf den Weg zum Fundort der Leiche, um eine Einschätzung abzugeben. An manchen dieser Schauplätze konnte selbst ein intellektuell etwas schwerfälliger Polizeischüler erkennen, dass ein Mord geschehen war, in anderen Fällen nahmen die Beamten dort, wo mit größter Wahrscheinlichkeit ein natürlicher Todesfall vorlag, die Räumlichkeiten genauer unter die Lupe, um nach Kampfspuren oder Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen zu suchen. Sie überprüften die vor Ort vorhandenen Medikamente – verschreibungspflichtig oder nicht –, übergaben den Fall dann dem jeweils zuständigen Team und warteten auf den nächsten Anruf. Ihr erster Fall hatte sie heute Morgen in eine Wohnung in Wood Green geführt, wo sie schnell zu dem Schluss gekommen waren, dass der alte Mann, der zusammengesackt in einem Sessel vor der Jeremy Kyle Show saß, eines natürlichen Todes gestorben war. Als man sie später zur U-Bahn-Station Highgate gerufen hatte, war das Bild auf den ersten Blick genauso eindeutig gewesen.

»Die Kollegen haben sich die Überwachungsvideos angeschaut«, hatte Chall nach einem kurzen Gespräch mit den Beamten vor Ort erklärt. »Sie stand allein am vorderen Ende des Bahnsteigs.« Er deutete auf die betreffende Stelle. »Dort, wo der Zug einfährt. Unmittelbar bevor er aus dem Tunnel auftauchte, lief sie los und sprang.«

Thorne hatte kaum etwas gesagt und den Leuten zugesehen, die immer noch auf den Gleisen arbeiteten. Sie sammelten ein, was noch übrig war, nachdem Fleisch und Knochen von einem mit sechzig Stundenkilometern einfahrenden Zug erfasst und überrollt worden waren.

»Sieht alles ziemlich klar aus«, bemerkte Chall.

Thorne starrte auf den Beutel, den Schlüsselbund, das Handy. Jetzt sah er darin auch den undefinierbaren Brocken, der das Plastik verschmierte. »Ja, wahrscheinlich«, entgegnete er.

»Ich verstehe nicht, wie jemand sich so etwas antun kann.«

»Sich umbringen?«

»Auf diese Weise, meine ich.«

»In der Regel funktioniert es«, sagte Thorne. Allerdings nicht immer, wie er wusste. Die Frau im Leichensack hatte Glück gehabt, jedenfalls insofern, als sie vermutlich ihr Ziel erreicht hatte. Es gab viele, deren Timing nicht so gut war und die lediglich mehrere Gliedmaßen einbüßten.

»Es ist der Fahrer, der mir leidtut«, sagte Chall. »Er muss damit leben.«

»Da haben Sie allerdings recht.« Thorne hatte bei der Ankunft im Stationsbüro einen kurzen Blick auf den Fahrer geworfen. Bleich, kahl rasiert und mit einem Becher in den Händen, während jemand vom U-Bahn-Notfallteam auf ihn einredete. Der Fahrer hatte nur genickt, und jemand hatte ihm einen tätowierten Arm um die Schultern gelegt. Thorne wusste, dass man dem Mann psychologische Betreuung anbieten würde. Er hatte gelesen, dass jeder Fahrer, der dreimal erleben musste, wie ihm jemand vor den Zug sprang, sofort in den Vorruhestand gehen durfte, bei vollen Bezügen.

Wahrscheinlich bloß ein Großstadtmythos, dachte Thorne. Wie die geheime U-Bahn-Station am Buckingham Palace oder die Gruppe wilder Kannibalen, die durch die Tunnel geisterte.

Draußen vor dem Eingang zum Bahnhof hatte er ein paar Passagiere gesehen, die in Grüppchen beisammenstanden, nachdem sie aus dem Zug hatten aussteigen müssen. Ihnen würde man ebenfalls die nötige Unterstützung anbieten. Unwillkürlich fragte sich Thorne, ob auch die Frau, die Auslöser des Ganzen gewesen war, irgendwelche Hilfsangebote bekommen hatte. Und ob sie alle dann überhaupt hier stünden.

»Keine Ahnung, wie man so was hinter sich lässt. Sie wissen schon … wenn man nicht daran gewöhnt ist.« Chall trat an die Bahnsteigkante. Die Männer und Frauen in Warnwesten unten auf den Gleisen hatten es nach dem Abtransport der Leiche deutlich eiliger als zuvor. Der Strom musste wieder eingeschaltet werden, die Züge weiterfahren.

Chall betrachtete Thorne stirnrunzelnd. »Alles okay, Chef?«

»Ist bloß ein bisschen warm hier unten, das ist alles.«

Chall nickte und summte eine Melodie vor sich hin. Ohne nachzudenken, schwenkte er den Plastikbeutel sanft hin und her, wodurch an dessen Boden ein blutiges Rinnsal von einer Ecke in die andere lief. Als Chall es bemerkte, hörte er sofort damit auf.

Das Wetter draußen war heute Morgen so unbarmherzig gewesen, wie man es in der letzten Januarwoche erwarten durfte. Als Thorne angekommen war, hatte der Atem der vor dem Bahnhof wartenden Fahrgäste, die nervös redend oder rauchend herumstanden, Wölkchen gebildet. Trotzdem fühlte er sich hier unten verschwitzt und unwohl, er hatte Kopfschmerzen. Als Chall in die andere Richtung schaute, zog er den Reißverschluss seiner Jacke herunter und atmete tief durch.

Selbstmord war ihm schon immer an die Nieren gegangen.

Seine erste Leiche war die einer Erhängten gewesen, und er hatte sie nie vergessen. Tatsächlich erinnerte Thorne sich an die meisten Leichen, die er in seiner Laufbahn zu Gesicht bekommen hatte. Auf jeden Fall an alle Mordopfer. Und so sehr er sich auch dagegen wehrte, an die Gesichter ihrer Mörder.

Es war eine Teenagerin gewesen, diese erste Leiche. Ein schmächtiges Mädchen, das am Ast einer Eiche im Victoria Park gebaumelt hatte. Ein zerrissenes blaues Kleid, Beine wie Streichhölzer und die schlammigen, sich berührenden Fersenkappen ihrer Turnschuhe.

Er sah sich selbst und einen Kollegen mit einer wackligen Trittleiter vor sich.

Und diesen dürren Körper, der so viel schwerer war, als er aussah.

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