»Und, was meinen Sie?«, fragte Chall.
In vielerlei Hinsicht konnte er mit Morden besser umgehen, denn die Fragen waren immer dieselben. Wer hatte es getan, warum und, vor allem: Wie würde er den Täter aufspüren? Die Fragen, die durch einen Selbstmord aufgeworfen wurden, setzten Thorne weit mehr zu, denn in neun von zehn Fällen blieben sie unbeantwortet.
»Bitte?«
»Sollen wir den Fall den Kollegen überlassen?« Der Detective deutete mit dem Kopf zum Ausgang. »Uns verabschieden …?«
»Wissen wir irgendetwas über die Tote?«
Chall öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. »Nein, aber wenn Sie mehr wissen wollen, dürfte das nicht allzu lange dauern.« Wieder hob er den Plastikbeutel hoch. »Immerhin wissen wir, wer sie ist.«
Jetzt entdeckte Thorne mehrere Kreditkarten, eine Oyster Card und einen blutbefleckten Führerschein. Er beugte sich näher heran, griff nach dem Beutel und schob ihn so zurecht, dass er das Passbild erkennen konnte. Im Gesicht der Frau meinte er die Andeutung eines Lächelns zu erkennen. »Okay, es kann nicht schaden, ein bisschen herumzufragen.«
»Wirklich?« Challs Gesichtsausdruck verriet sofort, dass er ihre Arbeit an diesem Fall für getan hielt. Ein Todesfall, der zwar plötzlich eingetreten, aber nicht verdächtig war. Es bestand ebenso wenig Anlass, einen näheren Blick auf das Leben der Frau im Leichensack zu werfen, wie bei dem alten Mann in seinem Sessel in Wood Green. Er trat näher. »Haben Sie irgendeinen Anhaltspunkt für etwas Verdächtiges?«
Thorne schüttelte den Kopf.
»Ist mir was entgangen?«
Ein kleines Stück von ihnen entfernt kletterten zwei Männer auf den Bahnsteig. Dann drehten sie sich um, um ihren Kollegen hochzuhelfen. Zum hundertsten Mal verkündete eine durch den Lautsprecher verzerrte Frauenstimme, dass der Bahnhof bis auf Weiteres gesperrt blieb.
»Ich meine, die Videoaufnahmen waren ziemlich eindeutig.« Chall schaute zu der Kamera, die hoch oben über dem Ende des Bahnsteigs montiert war. »Niemand war auch nur in ihrer Nähe.«
»Ich will bloß … später noch ein bisschen herumstöbern, das ist alles.«
»Wie Sie wollen, Chef.«
Thorne machte sich auf den Weg zum Stationsbüro, um zu sehen, ob er ein paar Worte mit dem Fahrer wechseln konnte. Und wenn er schon dort war, konnte er vielleicht auch ein paar Aspirin schnorren. Er trat beiseite, um zwei Männer mit einer fahrbaren Krankentrage vorbeizulassen, und dachte über etwas nach, das Chall gesagt hatte.
Niemand in ihrer Nähe …
Sarah sitzt am Küchentisch, den sie eine Stunde zuvor gewachst und poliert hat, und betrachtet die Frau ihr gegenüber, die den Karottenkuchen verputzt, als hätte sie einen Monat lang nichts zu essen bekommen. Die Frau – Karen, wobei die erste Silbe wie car ausgesprochen wird – summt vergnügt vor sich hin und tupft sich den Mund mit einer der Servietten ab, die Sarah nach dem Polieren des Tischs extra noch gebügelt hat.
»Oh. Mein. Gott.« Die Frau lässt ihre Hände flattern, als hätte der einzigartige Geschmack sie vorübergehend der Kontrolle über ihre Gliedmaßen beraubt.
»Schön, dass er Ihnen schmeckt.«
Die Frau schluckt. »Haben Sie den selbst gemacht?«
Manche Dinge sind es nicht wert, dass man ihretwegen schwindelt. »Sainsbury’s, fürchte ich. Ich wünschte, ich hätte Zeit zum Backen.«
»Wem sagen Sie das.« Der Blick der Frau fällt auf den in einer Ecke zusammengeschobenen Haufen mit Legosteinen und die herumliegenden DVDs: Dino Man und Coco – Der neugierige Affe . »Der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden, stimmt’s?«
Sarah nickt lächelnd, doch für einen kurzen Moment hat sie so etwas wie Missbilligung in der Miene der Frau entdeckt. Eine Grimasse, die sie nicht ganz unterdrücken konnte und die zu sagen schien, dass es – Stress hin oder her – für Schludrigkeit einfach keine Entschuldigung gibt.
Vor allem, wenn man Gäste hat.
»Es ist lächerlich, oder?« Die Frau streicht sich die Haare aus dem Gesicht und pickt dann die Krümel von ihrem Teller. »Man setzt die Kinder ab, dann gleich zurück ins häusliche Chaos, mit Glück ein schnelles Mittagessen. Und ehe man weiß, wie einem geschieht, ist es schon wieder Zeit, die kleinen Plagegeister abzuholen.«
»Ist schon schwer genug, wenn man nur einen davon hat.«
»Klar, natürlich.« Die Frau leckt sich die Finger ab. »Ganz zu schweigen vom Hund, den man bei Wind und Wetter ausführen muss …«
Sarah nickt und nimmt einen Schluck Kaffee.
Über die Hunde haben die beiden sich kennengelernt, vor vierzehn Tagen oder so, im Park am Ende der Straße. Sarah schleifte ihren dummen alten Mischling um den See herum und begegnete dabei Karen, die mit großem Getue ihren kläffenden Cockapoo ausführte. Die Hunde beschnüffelten gegenseitig ihre Hinterteile, während die Frauen sich auf zivilisiertere Weise bekannt machten.
Ja, es ist wirklich schön heute, nicht wahr? Ich wünschte nur, die Stadt würde sich um den Müll kümmern und um die Jungs, die auf den Bänken Gras rauchen. Allein der Geruch. Ach du Scheiße, Monty jagt schon wieder den Enten nach, ich werd mal lieber rennen …
Am nächsten Tag noch ein bisschen mehr Geplauder, ein paar gemeinsame Spaziergänge, und jetzt sitzen sie hier.
Kaffee und Kuchen, alles wunderbar.
»Ich glaube, meine beiden sind ein bisschen älter als Ihrer, oder?«
»Ja, er ist erst sechs.«
»Oh, tut mir leid, ab da wird’s nur noch schlimmer. Dreckige Fußballklamotten in sämtlichen Zimmern, die Hausaufgaben und was weiß ich noch alles. Können Sie sich drauf freuen.«
Sarah lacht und verdreht die Augen, weil es ihr passend erscheint. »Wo gehen Ihre zur Schule?«
»St Mary’s. Ich glaube, die ist sehr gut. Sie sollten Ihren Jungen dort rechtzeitig anmelden.«
Karens Kinder gehen nicht auf dieselbe Schule wie Jamie. Es wäre ihr ein wenig unangenehm gewesen, aber sie wäre damit zurechtgekommen. Solche Situationen hat sie schon mehrmals erlebt und sie irgendwie immer gemeistert. Improvisieren ist inzwischen eine ihrer Stärken.
Die Frau hat sich ihr Handy geschnappt und scrollt eifrig herum. Ohne den Blick vom Display zu nehmen, greift sie nach ihrer Handtasche und sagt: »Gott, in einer Stunde muss ich sie abholen, es wird Zeit.« Sie hebt den Kopf und lächelt. »Es war wirklich schön, Sarah.«
»Hat mich gefreut, dass Sie kommen konnten.«
»Nächstes Mal bei mir, ja?«
»Wunderbar.« Sarah lacht. »Und keine Sorge, ich erwarte keinen selbst gebackenen Kuchen.«
Die Frau fällt in ihr Lachen ein, und es klingt wie ein kratziges Bellen. »Gut, Sie werden auch keinen bekommen.« Dann steht sie auf und wirkt so selbstzufrieden, als sei ihr gerade eine wunderbare Idee gekommen. »Warum kommen Sie stattdessen nicht einfach zum Abendessen? Sie wissen schon, Sie und Ihr …«
»Ich habe keinen Irgendwas«, erwidert Sarah.
»Oh, ach so.«
»Geschieden.« Sarah nimmt den leeren Teller der Frau und stellt ihn auf ihren eigenen. »Auf der Suche.«
»Na, ich hoffe, Sie haben Ihren Ex um den letzten Penny gebracht.« Die Frau schaut sich um. »Schätze, das haben Sie.«
»Ich habe mein Bestes gegeben«, sagt Sarah.
»Wie auch immer.« Karen nimmt ihren Mantel und geht Richtung Tür. »Kaffeetrinken ist auch schön. Für mich jedenfalls, wenn Sie einverstanden sind.«
Sarah lächelt.
Natürlich , denkt sie. Man kann eine einsame alleinstehende Frau doch nicht zum Abendessen einladen, oder? So was sollte man tunlichst vermeiden. Es wäre für alle Beteiligten bloß unangenehm und peinlich.
»Dann bis bald im Park.«
»Auf jeden Fall«, sagt Sarah.
»Ich bin die, die einem renitenten Cockapoo hinterherläuft und haufenweise Scheiße aufsammelt.«
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