»Vielen Dank.«
»Irgendwann muss ich sowieso mal zu ihr rüber.« Sie wandte sich kurz ab, als hätte sie etwas abgelenkt. »Um ihre Sachen zu sortieren.«
Thorne griff in die Tasche und zog einen Schlüsselbund hervor, der – den Hygiene- und Sicherheitsvorschriften für den Umgang mit blutverschmierten persönlichen Gegenständen entsprechend – gründlich desinfiziert worden war. »Sie hatte die hier bei sich.«
»Oh.« Zögernd streckte Mary den Arm aus. Thorne legte ihr die Schlüssel auf die Handfläche, und sie schloss langsam die Faust darum.
»Ehrlich gesagt habe ich gehofft, Sie würden mit mir kommen«, sagte er.
»Wirklich?«
»Natürlich nur, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen.« Er sah, wie die Frau ihre Faust öffnete, auf die Schlüssel ihrer toten Schwester blickte und mit den Fingern über den ledernen Anhänger strich. »Auf dem Weg würde ich mich gern mit Ihnen über Philippa unterhalten. Aber auch das natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist.«
»Kann meine Tochter mitkommen?« Sie drehte sich zu der jüngeren Frau um, die wieder im Hausflur aufgetaucht war. »Seit wir die Nachricht erhalten haben, ist sie die ganze Zeit bei mir gewesen.«
»Natürlich.« Thorne sah, wie die beiden Frauen einen Blick wechselten. Die jüngere wirkte etwas widerwillig, signalisierte dann aber mit einem Achselzucken ihre Zustimmung.
»Geben Sie uns fünf Minuten«, sagte Mary Fulton.
Auf der Fahrt Richtung Tufnell Park saß die ältere Frau überwiegend schweigend auf dem Beifahrersitz von Thornes BMW, während ihre Tochter auf der Rückbank deutlich gesprächiger war. Ihre ausdruckslose Stimme deutete allerdings darauf hin, dass sie in erster Linie das Schweigen nicht auszuhalten schien. Thorne sah im Rückspiegel ihre roten, verquollenen Augen und vermutete, dass sie das Reden dem Weinen vorzog.
»Das ist ein schönes Auto«, sagte sie.
»Früher hatte ich ein älteres Modell. Das war noch viel schöner.«
»Polizisten scheinen deutlich mehr zu verdienen, als ich dachte.«
»Der hier war gebraucht.« Thorne bremste an einer Ampel und warf einen Blick in den Spiegel. »Ziemlich gebraucht.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich sage nicht, dass Polizisten nicht gut bezahlt werden sollten . Ich meine, es ist ein schrecklicher Beruf, oder? Grässlich. Menschen in den schlimmsten Situationen zu sehen, all die entsetzlichen Dinge und die … Opfer. Ich kann mir kaum vorstellen, dass einen das alles nicht verändert, Tag für Tag aufs Neue, dass es keine unangenehmen Auswirkungen hat … und ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass jemand diese Arbeit mag.« Sie lockerte ihren Sicherheitsgurt und beugte sich vor. »Mögen Sie Ihren Job?«
Thorne fuhr wieder an, und Mary drehte sich zu ihrer Tochter um.
»Ich weiß nicht, ob das –«
»Ich frage doch bloß.«
»Schon in Ordnung«, sagte Thorne.
»So ist sie immer, auch wenn’s ihr gut geht«, stellte Mary fest.
»Das ist nicht fair.«
»Und jetzt …« Mary packte die schwarze Handtasche auf ihrem Schoß noch fester. »Sie wissen schon, wo sie so aufgeregt ist …«
Thorne suchte Ellas Blick im Rückspiegel. »Standen Sie Ihrer Tante nahe?«
Ella lehnte sich ruckartig zurück und schüttelte den Kopf. »Was ist das für eine Frage?«
»Tut mir leid«, sagte Thorne.
»Mein Gott …«
»Es war eine dumme Frage.«
»Sie standen sich sehr nahe«, erklärte Mary.
Eine halbe Minute lang herrschte peinliches Schweigen, bis Ella seufzte und zu sprechen begann, als redete sie mit sich selbst. »Sie war für mich eher beste Freundin als Tante. Sie war ja nur ein paar Jahre älter als ich …«
Schweigend erreichten sie Chalk Farm, wo Thorne eine Reihe von Schleichwegen nahm, die er gut kannte, und schließlich auf die Kentish Town Road bog, gerade mal zwei Minuten von seiner eigenen Wohnung entfernt. Es hatte zu regnen begonnen, sodass sie noch schleppender vorankamen als gewöhnlich. Der dichte Verkehr hätte in jedem anderen Teil des Landes der abendlichen Rushhour Ehre gemacht.
»Ich hoffe, Sie verzeihen mir die Frage«, nahm Thorne das Gespräch wieder auf, »aber haben Sie irgendeine Vorstellung, was Philippa dazu gebracht haben könnte, sich das Leben zu nehmen?«
Erneut machte sich lähmende Stille breit. Die Spannung war greifbar. Thorne schaute in den Spiegel und sah, wie Ella mit ausdrucksloser Miene auf die langsam vorbeiziehenden Geschäfte und Passanten starrte, die mit grimmigen Gesichtern durch den Regen huschten. Als ein Fahrer vor ihnen hupte, zuckte Mary auf dem Beifahrersitz zusammen.
»Willst du es ihm sagen?«, fragte sie ihre Tochter. »Oder soll ich es tun?«
Ella reagierte nicht.
»Was denn?« Thorne wartete.
Die junge Frau auf der Rückbank schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher –«
»Komm schon.« Mary drehte sich zu Ella um. »Wir reden um den heißen Brei herum, seit wir erfahren haben, was passiert ist. Du weißt genauso gut wie ich, was Pip durchgemacht hat.« Sie schlug energisch auf die Rückenlehne ihres Sitzes. »Ella …?«
Ella blies die Wangen auf, ließ die Luft entweichen und beugte sich zu Thorne. »Es gab einen Mann, mit dem sie sich getroffen hat.«
»Ich wüsste ein paar passendere Bezeichnungen für ihn«, platzte Mary heraus.
»Es hat kein gutes Ende genommen.«
»Hat er sie sitzen gelassen?«, fragte Thorne.
Mary schnaubte. »So kann man es ausdrücken.«
»Pip war extrem unglücklich«, sagte Ella. »Die ganze Sache hat sie ziemlich hart getroffen.«
Mary drehte sich auf ihrem Sitz, sodass sie Thorne voll im Blick hatte. »Also, ich kann Ihnen nicht nur sagen, warum meine Schwester vor diesen Zug gesprungen ist, ich kann Ihnen auch den Namen des Mannes nennen, der dafür verantwortlich ist.«
»Also dann«, murmelte Mary und öffnete die Tür zum Haus, in dem Philippa Goodwin gewohnt hatte. Der Regen hatte nachgelassen. Ella trat ein Stück vor und hängte sich bei ihrer Mutter ein. Dann gingen sie zusammen hinein.
»Warum ist sie den ganzen Weg bis Highgate gegangen?« Die Frage schien Mary besonders umzutreiben. Sie drehte sich um und streckte den Finger aus. »Gleich dort um die Ecke ist eine Haltestelle.«
»Ich schätze, das werden wir niemals erfahren«, sagte Thorne.
Sie wollte sich wahrscheinlich etwas Zeit verschaffen, um es sich doch noch anders überlegen zu können, dachte er. Oder um all ihren Mut zusammenzunehmen.
Als Mutter und Tochter die Post vom gefliesten Fußboden aufgehoben hatten, folgte er ihnen in die Diele. Eine Auswahl farbenfroher Hüte und Schals hing aufgereiht über einem großen Spiegel. Darunter lehnte ein glänzendes schwarzes Fahrrad an der Wand, das Schloss ordentlich aufgerollt im Korb. Thorne sah, wie Mary im Vorbeigehen über den Sattel strich.
In der Wohnung war es warm, und aus der Etage darüber war Folkmusik zu hören. Thorne glaubte, den Geruch von Karamell wahrzunehmen, oder von Vanille. Er schaute sich um und bemerkte auf einem niedrigen Tisch einen dieser gläsernen Raumduft-Diffusoren mit Stäbchen.
»Nur Werbung«, sagte Ella und ließ die Post auf den Tisch fallen.
Thorne wusste über Londoner Hauspreise eigentlich nur, dass sie aberwitzig hoch waren. Er fragte sich, wie eine Universitätsdozentin in der Lage gewesen war, sich eine solche Wohnung – das komplette Erdgeschoss eines großen Reihenhauses in Tufnell Park – zu leisten. Als sie ins Wohnzimmer traten, wusste Mary seinen Gesichtsausdruck einmal mehr zu deuten.
»Unseren Eltern ging es ziemlich gut«, erklärte sie. »Großes Haus in Hampstead und so weiter. Als sie starben, konnte ich mit dem Erbe die Hypothek abzahlen und Pip diese Wohnung hier kaufen.« Sie deutete mit dem Kopf auf ihre Tochter. »Und Ella konnte sich auch etwas zulegen.«
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