Dass die Frau sie überhaupt anrief.
Cat sagte: »Im Moment passt es nicht gut.«
»Oh, okay.«
Als wäre es schade, als wäre sie enttäuscht. Verärgert.
»Ich muss die Leitung frei halten.«
»Ich wollte nur hören, wie du dich hältst.«
Ernsthaft? Dann tipp doch einfach mal. »Wie ich mich halte ?«
»Tut mir leid. Dumm, so was zu sagen.«
»Es ist …« Cat schluckte, suchte nach Worten und spürte unwillkürlich so etwas wie Mitleid für die Frau, trotz allem. Nicht, dass es auf längere Sicht viel ausmachen würde, aber es reichte, um sie für einen Moment zu irritieren.
»Brauchst du ein bisschen Gesellschaft?«
»Ich glaube nicht.«
»Ich kann in einer Viertelstunde da sein.«
»Wie gesagt …«
»Vielleicht kann ich dir etwas zu essen bringen oder so was. Meine Mutter kann auf Josh aufpassen …«
Es folgte eine Stille, die Cat ihrer Freundin widerstrebend anrechnete. Die Frau hatte mitten im Satz innegehalten, weil ihr das furchtbare Gewicht klar geworden war, das der Name ihres Sohns plötzlich erhalten hatte. Der Sohn, der noch da war, der aufgestanden war und mit ihr frühstückte, wahrscheinlich bloß einen Meter von ihr entfernt saß.
Cat konnte den schrecklichen Gedanken nicht zurückhalten, der plötzlich in ihrem Kopf Gestalt annahm.
Der Sohn, der eigentlich vermisst werden sollte.
Sie sagte: »Ich glaube, das ist keine gute Idee.«
»Natürlich. Ich wollte nur, dass du es weißt … was immer jetzt gut für dich ist. Ruf einfach an, okay?«
Cat bedankte sich automatisch und bereute es sofort. Sie würde nicht schimpfen und toben wie eine Verrückte, aber genauso wenig würde sie Maria vom Haken lassen. Sie würde sie weder trösten noch sagen, alles wäre in Ordnung. Und ganz sicher würde sie ihr nicht sagen, dass sie kein Schuld an dem trug, was geschehen war.
Warum sollte sie? Wie zum Teufel könnte sie?
»Ich nehme an, du hast noch nichts gehört?«
Cat biss sich auf die Zunge und unterdrückte den Impuls, sich zu entschuldigen, dass sie Maria nicht jede halbe Stunde auf den neusten Stand brachte. »Nein«, sagte sie, doch sie musste die ganze Zeit an Marias Gesichtsausdruck am Tag zuvor denken, als sie von der Toilette zurückgekommen war. Feige und heimlichtuerisch, dann beschämt, weil sie ertappt worden war. Mehr damit beschäftigt, ihr Rauchen zu verstecken, als die Jungs im Auge zu behalten, ihren Jungen.
Nein, nicht feige. Schuldbewusst …
Einige Sekunden lang war außer dem Knistern in der Leitung und einem Streit in der Wohnung über ihr nichts zu hören. Dann sagte Maria: »Es tut mir leid, Cat. Ich kann dir nicht sagen, wie … leid es mir tut.«
Die Frau klang, als sei sie den Tränen nahe.
»Ich weiß«, sagte Cat. Sie hörte das Schniefen und überlegte, ob jetzt der richtige Moment für die Frage war, was genau Maria leidtat. Das, was geschehen war, oder der Umstand, dass sie dafür verantwortlich war? Ging es tatsächlich um eine Entschuldigung oder nur um einen Ausdruck der Trauer darüber, wie schrecklich alles war?
Für sie beide .
Cat kam zu dem Schluss, dass es keinen Sinn hatte, denn wie auch immer die Situation ausgehen würde, konnte ihr Verhältnis nie mehr so werden wie zuvor. Selbst wenn just in diesem Augenblick ein Bulle durch die Tür kommen würde und Kieron im Schlepptau hätte – hungrig, schlammbespritzt und erstaunt über all die Aufregung –, konnte sie sich nicht mehr vorstellen, in absehbarer Zeit noch einmal mit Maria in den Park zu gehen. Sich zum Mittagessen zu treffen, zusammen ins Kino zu gehen, all diese Dinge.
So etwas konnte keine Freundschaft überstehen, oder?
Wenn sie denn überhaupt jemals Freundinnen gewesen waren. Denn Cat hatte sich immer wieder gefragt, ob Maria sie einfach in der Nähe haben wollte, um ein bisschen entspannte Unterhaltung zu haben. Oder als letzte Zuflucht, wenn Maria Langeweile hatte oder unbedingt aus dem Haus wollte und alle anderen keine Zeit hatten.
»Cat? Bist du noch da?«
Sie fragte sich, ob Maria sich einfach unters gemeine Volk hatte mischen wollen.
Cat rang nach den richtigen Worten oder einer klaren Meinung, ob es überhaupt noch etwas zu sagen gab, als es plötzlich an der Tür klopfte.
Sie schnappte nach Luft und sagte: »Ich muss auflegen.«
»Oh …«
»Da ist jemand an der Tür.«
»Alles klar«, sagte Maria.
Es klang beinahe geringschätzig, als würde die arme, gekränkte Maria ihr nicht glauben. Verärgert, ganz die verwöhnte Prinzessin. Denn so weltgewandt und superschlau, wie sie war, hatte sie natürlich begriffen, dass das Klopfen an der Tür – das um Himmels willen Neuigkeiten über Cats vermissten Sohn bedeuten konnte – nur eine Entschuldigung war, um sie loszuwerden.
Als wäre sie hier das Opfer, gequält und ungerecht behandelt, diejenige, die eigentlich die Leidtragende war.
Cat legte auf und ging zur Tür.
Mit trockenem Mund, beinahe keuchend machte sie auf.
Sie sah die Frau, die dort stand, senkte langsam den Kopf und schüttelte ihn. Dann brachen sie beide in Tränen aus.
Felix Barratt wohnte im Erdgeschoss einer viktorianischen Doppelhaushälfte in Wood Green. Er arbeitete als Verwalter einer städtischen Sozialwohnungssiedlung – »nicht der spannendste Job der Welt, aber mir passt er gut« – und wohnte nur mit einer Katze zusammen, weil ihm das, wie er Thorne ungefragt erklärte, am liebsten war.
»Ich liebe die Frauen, verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte er. »Manchmal zu sehr, um ehrlich zu sein. Aber ich will mir von niemandem sagen lassen, was ich tun und lassen soll. Was ich mir im Fernsehen ansehen und welche Klamotten ich tragen soll.« Er schüttelte sich theatralisch und zog eine Grimasse. »Nein, vielen Dank.«
Sie saßen in einem penibel aufgeräumten Wohnzimmer mit prallvollen Bücherregalen, einer Sammlung von Vogelfiguren in einem Schrank mit Glasfront und einem großen Erkerfenster mit Blick auf die baumbestandene Straße, durch das Barratt alle paar Minuten einen Blick warf.
Er hatte Tee in Porzellantassen serviert, dazu einen Teller mit Keksen.
»Als Sie angerufen haben, sagten Sie, Sie seien kurz vorher selbst im Wald gewesen.«
»Korrekt«, sagte Barratt. »Ungefähr eine Stunde bevor ich den Wagen gesehen habe, bin ich aus dem Wald gekommen. Ich habe oben in Muswell Hill vorbeigeschaut, nur um eine Weile in den Läden herumzustöbern. Ich war auf dem Rückweg zu meinem Auto, als ich den Mann mit dem Jungen gesehen habe.«
Barratt war Anfang vierzig, aber wie ein deutlich älterer Mann gekleidet. Er trug eine braune Cordhose, sorgsam polierte Budapester sowie Hemd und Krawatte unter einer Tweedjacke. Sein Sonntagsoutfit, dachte Thorne, es sei denn, er hätte sich für den Besuch eines Polizeibeamten ein bisschen herausgeputzt. Thorne wusste aus Erfahrung, dass manche Leute so etwas taten. Doch aus irgendeinem Grund glaubte er nicht, dass Barratt zu dieser Gruppe gehörte. Thorne selbst zog sich nur dann schick an, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ, und er konnte nicht nachvollziehen, warum andere es freiwillig taten.
»Warum der ganze Weg bis zum Highgate Wood?«
»Wie bitte?«
»Na ja, ich hab nur gedacht, der Alexandra Park ist nicht so weit von hier.« Thorne wandte sich um und deutete zum Fenster. »Er müsste bloß … fünf Minuten entfernt liegen.«
»Oh, im Wald ist es so viel schöner«, stellte Barratt fest. »Er ist wesentlich älter und viel üppiger . Es gibt dort Buntspechte und Kleiber. Hin und wieder auch Baumläufer. Summa summarum einundsiebzig verschiedene Arten.« Mit dem Kopf deutete er auf den verglasten Schrank. »Ich mag Vögel.«
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