1 ...8 9 10 12 13 14 ...28 Weil wir in einem Reihenhaus wohnten und auch dementsprechend von einer großen Nachbarschaft umgeben waren, dauerte es nicht lange, bis ich die ersten Freundschaften geschlossen hatte. Ich spielte mitunter mit dem netten Jungen, welcher im Erdgeschoss wohnte, und mit einem netten Mädchen aus dem Nebengebäude, welches auch in meiner Klasse bald meine beste Freundin wurde. Wir alle mochten Disney Filme und spielten mit den Sammelfiguren von McDonalds. Hinter unserem Haus befand sich ein großer Spielplatz, welcher ebenfalls einen beliebten Treffpunkt darstellte. Im Winter fuhren wir auf einem aufgeschütteten Schneehaufen mit unseren Plastikschlitten abwärts. Das machte großen Spaß.
Schließlich war es so weit. Die Geburt meines Bruders stand unmittelbar bevor und ich wurde zu meinem Vater gebracht. Ich protestierte, da ich bei der Geburt so gerne mit dabei gewesen wäre. Doch das war alles andere als angebracht.
Mein Vater hatte zum damaligen Zeitpunkt gerade Besuch von einer alten Freundin, mit welcher er früher bereits einmal zusammen war. Inzwischen führten sie eine erneute Art der Beziehung. Ob es sich dabei nur um eine Ablenkung von meiner Mutter handelte, kann ich nicht beurteilen. Ihr Name war Heidi, sie war sehr nett und offen. Gemeinsam spielten wir mit meinen Spielfiguren amüsante Geschichten, um mir die lange Wartezeit auf meinen Bruder zu verkürzen. Heidi und mein Vater waren noch einige Zeit in gewisser Weise zusammen. Allerdings nicht für lange. Später einmal machte er deutlich, dass jene Heidi, mit welcher er über einen längeren Zeitraum vor meiner Mutter in einer Beziehung war, im Grunde seine ganz große Liebe gewesen war. Ob das tatsächlich stimmte, oder ob das seine persönliche Art der Verdrängung darstellte, wusste wohl nur er allein.
Schließlich erhielten wir Meldung, dass die Geburt erfolgreich verlaufen und mein Bruder heil und wohlbehalten das Licht der Welt erblickt hatte. Im Vergleich zu mir erfolgte die Geburt auf natürlichem Wege. Ich dagegen war ein Kaiserschnitt, weil ich mich im Bauch gedreht hatte. Womit er mir gegenüber ebenfalls im Vorteil war: sein Zungenbändchen war wie meines ebenfalls verkürzt. Jedoch wurde es bei ihm rechtzeitig entdeckt und direkt nach seiner Geburt durchtrennt, so dass es keine große Sache darstellte. Bei mir blieb dies als Baby dagegen unbemerkt.
Zum ersten Mal konnte ich die Rückreise vom Wochenende bei meinem Vater kaum erwarten. Während ich ansonsten beinahe bei jeder Rückfahrt jammerte und bettelte, noch etwas länger bei meinem Vater bleiben zu dürfen, war ich dieses Mal so aufgeregt und voller Vorfreude auf meinen kleinen Bruder. Die Nacht zuvor hatte ich bereits von ihm geträumt.
Der Abschied von meinem Vater verlief kurz und knackig. Euphorisch stürmte ich die Stufen hinauf und fragte voller Eifer: „Wo ist mein Bruder, wo ist mein Bruder?“
Meine Mutter nahm mich an die Hand und führte mich leise in sein Kinderzimmer. Und dort lag er. Mein kleiner Bruder Finn. Tief schlafend in seinem Kinderbettchen. Mit hochrotem Köpfchen, nicht viel größer als eine Puppe. Er sah so winzig und zerbrechlich aus. Irgendwie ein komisches Gefühl, auf einmal ein Brüderchen zu haben. Aber meine Freude war grenzenlos und ich war voller Stolz. Ich konnte es nicht erwarten, bis er endlich aufwachte und ich ihn zum ersten Mal in den Arm nehmen durfte.
Wenig später war dies dann auch der Fall. Als er wach wurde, nahm ihn meine Mutter ganz vorsichtig aus dem Bettchen heraus und setzte ihn mir auf den Schoß. Wie amüsant er sich leicht hin und her bewegte. Die Augen noch halb geschlossen.
Die nächsten Tage erlebte ich so viel Neues. Ich durfte beim Wickeln und Baden zusehen und ihm zwischendurch auch mal das Fläschchen geben. Er war schon ein putziger kleiner Pfannkuchen. In meinem Zimmer war er von nun an auch gerngesehener Gast. Mithilfe von Kuscheltieren, Filmen und Nintendo-Spielen schaffte ich es immer wieder ihn zum Lachen zu bringen. Sah ich fern, so lag er oft lange auf meinem Bauch und schaute mit. Kopf an Kopf, ein Bild für Götter.
Es dauerte nicht lange, da stand auch schon der erste Besuch von unserer gemeinsamen Omi aus Thüringen an. Natürlich war auch ihre Freude über einen weiteren Enkel sehr groß und wir verbrachten eine schöne Zeit miteinander. Neben den Aktivitäten mit meinem Bruder, übte meine Omi mit mir für die neue Schule. Nachdem ich gelernt hatte, ganz passabel in Schreibschrift zu schreiben, übten wir das Schreiben von ganzen Sätzen neben meinen herkömmlichen Hausaufgaben.
Es gab Zeiten, da war ich beinah schon etwas eifersüchtig auf meinen neuen kleinen Bruder. Er bekam so viel Zuwendung und Aufmerksamkeit von allen Seiten, stand eigentlich meist im Mittelpunkt. Außerdem war er das gemeinsame Kind von meiner Mutter und Onkel Beck, also musste ihn meine Mutter doch automatisch lieber haben als mich, oder? Es ist wohl weitestgehend normal, dass ein Baby deutlich mehr Beachtung erhält als die schon etwas größeren Kinder. Ich denke trotz allem, dass meine Mutter meine damalige Situation überinterpretierte, indem sie mich als den „verwöhnten Prinzen“ (was ich eindeutig war, keine Frage) bezeichnete, der plötzlich durch den jüngeren Bruder vom Thron gestoßen wurde. Heute denke ich jedoch, dass diese Konstellation in sehr vielen Familien besteht und es eines der natürlichsten Dinge im Leben ist, dass Babys nun einmal mehr Aufmerksamkeit bekommen als die älteren Kinder, welche schon ganz gut auf eigene Faust zurechtkommen.
Zudem kam mittlerweile auch vermehrt Onkel Becks Mutter, Ulla, auf Besuch, um Finn, ihren ersten Enkel, zu besuchen, welchen sie mächtig ins Herz geschlossen hatte. Ich mochte sie nicht besonders, empfand sie sogar gelegentlich als störend und eine Spur ZU emotional. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, dass ich mich einmal unbewusst mit ihr anlegte, obwohl dies gar nicht meine Absicht war. Sie kuschelte mit Finn und nannte ihn liebevoll „ihren“ kleinen Schatz. Ich nörgelte sie an, dass es nicht IHR kleiner Schatz wäre, sondern er nur meiner Mutter, Onkel Beck und mir gehörte. Das verletzte sie zutiefst. Sie begann zu heulen und verdeutlichte meiner Mutter lautstark, wie frech und ungezogen ich doch wäre. Heulend verließ sie unsere Wohnung und ich bekam einen Rüffel. Dabei hatte ich es doch gar nicht so böse gemeint.
Natürlich war es meinerseits nicht die feine englische Art im Nachhinein betrachtet. Schließlich war sie trotzdem seine Oma, was es zu respektieren galt. Möglicherweise akzeptierte ich sie nicht, weil sie nicht MEINE Oma war. Unsere gemeinsame Oma aus Thüringen, war da schon eine andere Hausnummer, welche uns ja auch verband. Auf der anderen Seite war aber auch ihr Verhalten alles andere als erwachsen. Eine reife Frau ihres Alters hätte über jener kindlichen Aussage einfach drüberstehen müssen und nicht eine derartige Szene an den Tag legen dürfen.
In der darauffolgenden Nacht kam es zu einem Eklat zwischen meiner Mutter und Onkel Beck. Ich wurde von einem lautstarken Wortgefecht geweckt, Onkel Beck war leicht angetrunken und warf meiner Mutter lautstark vor, was ich doch für ein böses, verwöhntes Kind sei und wie ich es hätte wagen können, seine Mutter derartig zu verletzen. Türen flogen, ich hörte Schreie.
Dies war nicht das erste Mal, dass ich nachts von derartigen Szenarien aus dem Schlaf gerissen wurde …
Nächte der Angst
Onkel Beck war schon lange nicht mehr nur der lockere, unkomplizierte Zeitgenosse, als welchen ich ihn anfangs kennengelernt hatte. Die erste große nächtliche Aktion in meinem Beisein fand in jener Nacht vor meinem 7. Geburtstag statt.
Meine Mutter hatte mir am Vorabend liebevoll einen Geburtstagstisch hergerichtet. Onkel Beck begann in der Nacht lautstark mit meiner Mutter zu schimpfen, mein anstehender Geburtstag war der Anlass. Er ärgerte sich im Alkoholrausch darüber, wie man einem „so bösen Kind“ doch einen solch schönen Geburtstagstisch bereiten könne. Als es lauter wurde, schlich ich zur Tür heraus und sah die beiden energisch miteinander streiten. Meine Mutter bat ihn leiser zu sein und vermerkte, dass ich doch Angst hätte. „Soll er ruhig Angst haben!“, nuschelte Onkel Beck unbeeindruckt vor sich hin.
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