»Und?«, fragte Anders. »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Ja«, entgegnete Jannik abermals, fuhr jedoch nach einem Augenblick und in zögerndem Ton fort: »Je weniger du weißt, desto besser ist es für dich, glaub mir.«
»Sehr komisch«, sagte Anders. »Du glaubst doch nicht, dass du damit durchkommst.«
»Doch, das glaube ich«, antwortete Jannik. »Mach dir keine Sorgen. Ich bringe dich hier schon raus. Noch einmal versage ich nicht«, fügte er leiser und hörbar bitter hinzu.
»Noch einmal?« Anders schüttelte den Kopf. »Spinnst du? Diese Landung hätte nicht einmal Captain Picard besser hingekriegt.«
»Aber der hätte sich bestimmt nicht so übertölpeln lassen. Das hätte nicht passieren dürfen.«
»Was?«
»Was? Fragtest du wirklich was ?« Jannik schüttelte ärgerlich den Kopf. »Es hätte nie zu diesem Schuss kommen dürfen. Ich habe einfach nicht vorausgesehen, dass einer dieser beiden Idioten wegen des Unwetters durchdrehen könnte. Das ist doch verrückt! Wenn der Typ nicht das Cockpit zusammengeschossen hätte, hätte ich die Maschine in einem Stück runtergebracht.«
»Ich fand dein Flugmanöver auch so schon beeindruckend«, erklärte Anders. »Immerhin leben wir noch. Und außerdem bist du ja kein ausgebildetes Hijacker-Opfer, oder?«
Jannik blieb ernst. »Es hätte einfach nicht passieren dürfen«, beharrte er. »Nicht mir.«
»Du konntest schließlich nicht ahnen, dass die beiden Typen vor uns da sind«, sagte Anders nun in ebenfalls ernstem Ton. »Ich verstehe sowieso nicht, wie sie das geschafft haben, mit dieser Schrottkarre von Lieferwagen.«
Darauf erwiderte Jannik nichts, aber er sah Anders auf eine ganz spezielle Art an, die ihm klar machte, dass er es sehr wohl verstand.
Dann begriff auch er es: Es war seine Schuld. Die beiden Möchtegernganoven hätten nicht die Spur einer Chance gehabt, sie einzuholen, wenn sie ihren Vorsprung nicht freiwillig verschenkt hätten, indem er den Hummer gefahren hatte. Es war ganz eindeutig seine Schuld. Aber er sparte sich jede entsprechende Bemerkung. Er glaubte Janniks Antwort darauf regelrecht zu hören: Schließlich war es meine Entscheidung, dich fahren zu lassen .
Stattdessen deutete er wieder nach draußen. »Und das?«
Vielleicht hätte Jannik in diesem Moment tatsächlich geantwortet, denn Anders spürte, dass er plötzlich nicht mehr annähernd so entschlossen war wie noch vor ein paar Augenblicken. Doch jetzt war er es, dem das Schicksal zu Hilfe kam: Gerade als Jannik zu einer Erklärung ansetzen wollte, begann sich die verkrümmte Gestalt draußen auf dem Kopfsteinpflaster zu bewegen. Narbenhand lebte.
Anders wollte aufspringen, doch Jannik legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und drückte so fest zu, dass ihm um ein Haar ein Schmerzenslaut entschlüpft wäre. Gleichzeitig deutete er mit der anderen Hand nach oben, in den Himmel hinauf.
Anders hob den Blick und für einen Moment stockte ihm fast der Atem.
Ohne dass es ihm bisher aufgefallen war, hatte das Unwetter ebenso schlagartig aufgehört, wie es begonnen hatte. Der Himmel jedoch war nicht leer. Zwei grelle Lichtpunkte näherten sich in rasendem Tempo, und beinahe im gleichen Moment hörte Anders ein dumpfes, rasch näher kommendes Geräusch, das er nach einem weiteren Augenblick als das typische Rotorengeräusch eines Hubschraubers erkannte.
»Na, das ging aber schnell!«, sagte er überrascht und auch unendlich erleichtert. Abermals wollte er aufspringen, und wieder legte Jannik ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück, wenn auch nicht auf so schmerzhafte Art wie gerade. Er schüttelte nur den Kopf.
»Was ist denn los?«, fragte Anders verwirrt.
»Still!«, zischte Jannik. »Und rühr dich nicht!«
Anders war so perplex, dass er sich tatsächlich nicht rührte – doch er blieb nicht still. »Aber wieso denn?«, wunderte er sich. »Das ist doch die Polizei, oder? Ich meine: Sie sind bestimmt gekommen, um …« uns zu retten? Die drei letzten Worte sprach er nicht mehr aus, als er den Ausdruck auf Janniks Gesicht sah. Wenn er jemals Angst in seinen Augen gesehen hatte, dann jetzt. Das da oben war weder die Polizei noch sonst jemand, der gekommen war um sie zu retten .
Mit klopfendem Herzen sah er wieder zum Himmel. Die beiden Lichtpunkte kamen rasch näher und sie bewegten sich unabhängig voneinander, was bedeutete, dass es tatsächlich zwei Helikopter waren, nicht eine Maschine mit zwei Scheinwerfern. Das war seltsam. Fast so seltsam wie die Tatsache, dass die vermeintlichen Rettungskräfte jetzt schon hier sein sollten – auch wenn es ihm nach all den hektischen und turbulenten Ereignissen viel länger vorkam , so waren seit ihrer Begegnung mit dem Polizeihubschrauber doch allerhöchstens zehn Minuten vergangen; und wahrscheinlich eher weniger. Eigentlich war es unmöglich, dass sie so schnell auftauchten.
»Was ist hier los?«, fragte er wieder.
Jannik schüttelte abgehackt den Kopf. »Nicht jetzt.« In seiner Stimme war fast so etwas wie Panik. Anders sah, wie seine Hand an seinem Pullover hinunterwanderte und nach der Waffe griff, die er unter den Gürtel geschoben hatte, sich dann aber im letzten Moment wieder zurückzog.
Er blickte erneut nach oben. Die beiden grellen Lichtkreise waren mittlerweile so nahe gekommen, es war ihm kaum noch möglich, sie anzusehen, ohne dass die gleißende Helligkeit ihm die Tränen in die Augen trieb. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Motorengeräusch. Er konnte nicht genau sagen was, aber es klang nicht wirklich wie das normale Motorengeräusch eines Helikopters. Das sonderbar gedämpfte Flappen nahm weiter an Lautstärke zu, dann wurde aus einem der beiden Lichtpunkte plötzlich der grelle Strahl eines Suchscheinwerfers, der wie eine Pfütze aus grellweißem Licht über die Straße tastete, einen Moment am Wrack der Cessna hängen blieb und dann weiterglitt.
Auch Narbenhand hatte das Licht natürlich bemerkt und richtete sich mühsam auf. Seine Bewegungen wirkten schwach und sonderbar unkoordiniert. Anders nahm an, dass er weniger Glück gehabt hatte als Jannik und er und ziemlich schwer verletzt war. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte.
Die beiden Lichtkreise teilten sich endgültig. Der Scheinwerferstrahl blieb unverrückbar auf Narbenhand gerichtet, der mittlerweile vollends aufgestanden war und die linke Hand über das Gesicht gehoben hatte, um seine Augen vor dem grellen Licht zu schützen. Der zweite Lichtpunkt erlosch plötzlich, und nur einen Moment später senkte sich der sonderbarste Hubschrauber auf den Platz herab, den Anders jemals gesehen hatte.
Die Maschine war riesig, stromlinienförmig und aggressiv geformt wie ein Hai und von einem so tiefen Schwarz, dass sie das Licht regelrecht aufzusaugen schien. Sie war außerdem sehr leise. Das Geräusch, das Anders gehört hatte, war nur das Zischen der Luft, die die bizarr geformten Rotorblätter durchschnitten. Die Turbine selbst schien vollkommen lautlos zu arbeiten.
Doch wenn er den Helikopter schon sonderbar fand, dann fehlten ihm für die drei Gestalten, die nach einem Moment aus dem fliegenden Raubfisch ausstiegen, beinahe die Worte.
Es waren zweifellos Menschen. Aber das war auch so ziemlich alles, was er auf Anhieb sagen konnte. Die drei Männer (wenn es Männer waren) trugen einteilige, glänzende schwarze Anzüge, die nahtlos in Handschuhe und wuchtige schwarze Helme übergingen. Ihre Gesichter verbargen sich hinter schwarz verspiegelten Scheiben und sie trugen klobige Gewehre mit plumpen Läufen in den Händen.
»Wer ist das?«, fragte Anders. Jannik brachte ihn mit einer fast erschrockenen Geste zum Schweigen und Anders wandte sich mit klopfendem Herzen wieder dem Geschehen auf dem Platz zu.
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