Khan rief einen großen, bärtigen Mann zu sich. Sein langes, schwarzes Haar war im Nacken zu einem Zopf geflochten, der ihm bis zum Gürtel reichte. Das Training hatte bereits einige Strähnen daraus befreit. Er unterbrach seinen Kampf und trottete mit schweren Schritten heran.
»Massud, ich habe eine neue Schülerin für dich!«
Der Angesprochene sah Dinah skeptisch an, sagte jedoch nichts. Eine seiner buschigen Brauen wanderte nach oben, während sein unwilliger Blick an ihrem Seidenkleid hängenblieb. Ein Seufzen entglitt ihm, während er mit einer seiner Pranken nachdenklich über sein bärtiges Kinn strich.
Dinah fühlte sich während dieser Musterung äußerst unwohl. Unbeholfen trat sie von einem Fuß auf den anderen.
Khan lachte laut auf. Massuds Reaktion schien ihn ehrlich zu amüsieren. »Du brauchst sie nicht zu schonen, mein Freund. Sie will wirklich lernen. Stell dir einfach vor, sie sähe aus wie du selbst.« Er klopfte Massud aufmunternd auf die breite Schulter, zwinkerte Dinah zu und schlenderte dann einfach davon.
Kapitel 7
Abdi hatte die ominöse Kiste eingehend untersucht und Scheherazade versichert, dass keine Gefahr von der Holzkassette ausginge, und sie dem König übergeben werden könne. Trotzdem war Scheherazade außer sich vor Sorge. Nicht nur, dass ihre geliebte kleine Schwester in die Hände eines der berüchtigtsten Männer gefallen war, von denen sie je gehört hatte. Auch sie selbst fühlte sich nicht mehr sicher. Trotz der Gefahr, die unterschwellig von ihrem Gemahl und seinem unberechenbaren Wesen ausging, hatte sie sich im Palast und der Pairidaeza immer geborgen gefühlt. Vor allem wusste sie, dass es eine Festung war, die ihren Zayriddin vor der Welt beschützte. Doch nun war der Wüstenkönig Khan Bassam völlig mühelos eingedrungen und hatte jegliches Gefühl von Sicherheit in der Luft zerrissen wie dünne Seide. Und gerade inmitten dieser Krise war Schah Rayâr nicht da. Er war zusammen mit einer Delegation, der auch ihr Vater, der Großwesir, angehörte, zu einer Verhandlung nach Buchara gereist. Natürlich hatte Scheherazade sofort nach ihm geschickt. Doch bislang war weder er selbst noch eine Nachricht von ihm aufgetaucht. Ein Glück nur, dass er heute endlich zurückerwartet wurde. Eine weitere bange Nacht ohne seine Macht und Autorität im Palast hätte Scheherazade wohl nicht überstanden. Unruhig tigerte sie vor dem großen Fenster auf und ab, von dem aus sie ihn sogleich sehen würde, wenn er heimkehrte.
Statt ihres Gemahls entdeckte sie den ersten Hauptmann der Palastwache. Scheherazade eilte die breite Treppe hinunter.
»Hauptmann, auf ein Wort!«, rief sie ihm schon von weitem entgegen. Er seufzte demonstrativ, als er sie erblickte.
»Habt Ihr meinen Gemahl über Khan Bassams Eindringen und die Entführung meiner Schwester unterrichtet, wie ich Euch aufgetragen habe?«
»Noch nicht, Majestät.«
Scheherazade hatte die Frage eher rhetorisch gemeint, um zu erfahren, wann der König zurückkommen würde. Fassungslos starrte sie den Hauptmann an.
»Wieso nicht?«, fragte sie unwirsch.
»Naja, die Nachricht wird Schah Rayâr nicht gerade erfreuen, und ich wollte ihm das große Kamelrennen heute nicht verderben.« Der Hauptmann reckte selbstsicher, fast kühn das Kinn.
Scheherazade hätte ihm wie eine Raubkatze ins Gesicht springen mögen. »Ein Feigling seid Ihr, sonst nichts!«, schrie sie ihn an. »Er wird so oder so von Eurem Versagen erfahren. Und nun erfährt er darüber hinaus noch von Eurem Versäumnis, ihn zu unterrichten! Feigheit steht dem ersten Hauptmann der Palastwache nicht gut zu Gesicht. Da wird mein königlicher Gemahl meiner Meinung sein!«
Seine Miene hatte sich förmlich versteinert, als er in überraschend ruhigem Tonfall antwortete: »In Samarqand haben seit Neustem auch Frauen das Recht, ihre eigene Meinung kundzutun. Obwohl ich es befürworte, wenn sie traditionsgemäß schweigen.«
Scheherazade schnappte empört nach Luft. Doch bevor sie den Hauptmann zurechtweisen konnte, hatte der sich bereits umgedreht und ging ohne ein weiteres Wort davon. Zorn und Verzweiflung füllten jede Faser ihres Körpers aus. Am liebsten hätte Scheherazade geschrien und gegen die Palastwände geschlagen, um ihren Gefühlen Luft zu machen. Doch diesen Triumph würde sie dem Hauptmann nicht gönnen. Sie musste Schah Rayâr sprechen und ihm die Kiste übergeben. Er würde wissen, was zu tun sei. Doch niemand aus diesem feigen und heuchlerischen Haufen von Dienern und Beratern würde ihr beistehen. Das war offensichtlicher denn je. Also borgte Scheherazade sich ein einfaches Kleid von Zayriddins Amme, verhüllte ihr Gesicht und eilte zum ersten Mal seit Monaten allein hinaus auf Samarqands Straßen.
Die ganze Stadt war auf den Beinen. Scheherazade wagte es nicht, durch die verwinkelten Seitengässchen zu streifen, wie sie es in unbeschwerteren Tagen gerne getan hatte. Und Samarqands Hauptstraßen waren vollgestopft mit Menschen. Das alljährliche Kamelrennen lockte nicht nur die Bewohner der Stadt aus ihren Häusern. Es waren auch zahlreiche Besucher gekommen, um das Spektakel zu bestaunen. Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass viele Reisende gar ihre Streckenplanung nach diesem Fest auslegten, nicht jedoch, um den Trubel zu meiden, sondern viel mehr, um sich hineinzustürzen. Es erfüllte Scheherazade mit Stolz, wie prächtig ihre Heimatstadt sich entwickelt hatte. Sie blühte und gedieh, was nicht zuletzt ihrem Gemahl zu verdanken war. Heute jedoch wäre es ihr ganz recht gewesen, Samarqand etwas weniger vollgestopft vorzufinden.
Die Händler nutzten natürlich die Gelegenheit, den Gästen und Bewohnern der Stadt allerlei Waren feilzubieten. Sie säumten die Straßen und machten mit ausladenden Gesten und lauten Rufen auf sich aufmerksam. Die Abgaben ihrer Stände würden dem Palast ein hübsches Sümmchen einbringen.
Scheherazade wurde durch die Straßen gedrückt und geschoben. Sie presste die Kiste, die Khan Bassam ihr übergeben hatte, an sich wie einen wertvollen Schatz. Womöglich hing Dinahs Leben von ihrem Inhalt ab! Bald merkte Scheherazade, dass sie am besten vorankam, wenn sie im Strom der Menschen einfach mitschwamm. So ließ sie sich schließlich durch die Stadt treiben wie ein Fisch in seinem Schwarm. Und hätte sich die Angst nicht als schwerer Klotz in ihrer Brust festgesetzt, so hätte sie das pulsierende Leben, das das Fest Samarqand eingehaucht hatte, sicherlich genossen.
Plötzlich schlug die Stimmung um. Scheherazade war, als wäre eine dunkle Wolke aufgetaucht, die auf die Gemüter drückte. Die Luft schien vor Spannung zu knistern, als würde ein heftiges Gewitter nur darauf warten, sich zu entladen. Doch am Himmel herrschte nach wie vor strahlender Sonnenschein.
Zwar war sie schon die ganze Zeit immer wieder angerempelt worden, doch die vielen Menschen waren bisher wie ein träger Strom gewesen, der sich nur in eine Richtung durch sein Flussbett wälzte. Nun wurde plötzlich in alle Richtungen geschubst. Auf Höhe einer Schenke prügelten sich ein paar junge Samarqander Burschen mit einer Reisegruppe. Aus ihrem Geschrei wurde Scheherazade nicht schlau, und womöglich wussten die Streithähne selbst nicht so genau, warum sie kämpften. Doch ihre Handgreiflichkeiten unterbrachen den friedlichen Menschenstrom. Plötzlich riefen die Leute neben ihr wild durcheinander. Scheherazade bekam einen schmerzhaften Rempler in die Rippen. Sie stolperte zurück und trat einer Frau hinter sich auf die Füße. Die jaulte auf, und schubste sie fluchend wieder nach vorn.
Ein Mann zu ihrer Linken wurde durch einen schwungvollen Kinnhaken niedergestreckt. Panisch blickte Scheherazade sich nach einem Ausweg um.
»Die Königin!«, schrie da ein Mann, dem sie direkt in die Arme lief. Er war jung, blass und schlaksig. Hätte er sie nicht enttarnt, Scheherazade hätte ihn vermutlich völlig übersehen. Zum Glück reagierte im allgemeinen Lärm niemand auf seine Rufe. Doch er ließ sich nicht beirren. Scheherazades flehende Blicke lösten bei ihm eher Belustigung statt Verständnis oder gar Mitleid aus.
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