Er schenkte ihr Wasser ein und schob ihr die Obstschale hinüber. Dinahs Blick fiel auf einen leuchtend roten Granatapfel, und sofort kamen ihr die Worte ihrer Schwester wieder in den Sinn. Schnell wandte sie den Blick ab, doch in ihrem Kopf stiegen unweigerlich Bilder auf, wie Khan Bassam die Frucht mit einem Hieb seines Säbels zerteilte und sein Gesicht darin versenkte. Ihre Wangen wurden heiß.
»Aber wie so oft liegt auch ein Funken Wahrheit in der Geschichte«, nahm er das Gespräch wieder auf. Dinah versuchte sich voll und ganz auf seine Worte zu konzentrieren, um wieder Herrin ihrer Gedanken zu werden.
»Wir leben im Verborgenen, deshalb reisen wir auch gerne unter dem Wüstensand. Ein Volk, das nicht gefunden wird, hat auch keine Angreifer zu fürchten.«
»Aber die Maschine wird doch mit Dampf betrieben, wenn ich nicht irre«, warf Dinah ein. »Verrät dieser nicht ganz genau, wo das Wüstenschiff gerade durch den Sand taucht?«
Khan Bassam lächelte sie an. »Gut beobachtet! Der Dampf ist natürlich ein Risiko. Doch oft verweht ihn der Wind zu einem weitläufigen Nebel, und selbst wenn er gesehen wird, wissen die meisten sich keinen Reim darauf zu machen. Sie fürchten rachsüchtige Wüstengeister oder flüchten, weil sie denken, der Erdboden könnte sich auftun und sie verschlucken. Niemand geht der Sache auf den Grund.«
Er beugte sich vor und streckte seine Hand zur Obstschale. Dinahs Herz setzte einen Schlag aus. Doch er griff am Granatapfel vorbei und wählte eine Dattel. Sie versuchte, sich zu entspannen. Was hatte Scheherazade ihr da nur für einen dummen Floh ins Ohr gesetzt!
Sie trank einen Schluck Wasser. Erschöpft fuhr sie sich über die geschlossenen Augen.
»Es tut mir leid, Dinharazade.« Seine Stimme klang unerwartet sanft. Überrascht sah sie ihn an. Er schaute auf die Dattel in seiner Hand und presste die Lippen zusammen, als wollten die Worte nicht herauskommen. Bisher hatte er so selbstsicher gewirkt. Hatte der Wüstenkönig etwa auch eine zarte Seite, oder war das lediglich ein Versuch, sie zu manipulieren? Womöglich wollte er sie nur in Sicherheit wiegen?
Die Fragen, die sie seit dem Verlassen des Palastgartens in ihrem Hirn hin und her gewälzt hatte, sprudelten nun aus ihr heraus. »Was soll das alles? Wollt Ihr meine Familie mit dieser Geiselnahme erpressen? Sollen sie mich freikaufen?«
Khan Bassam zog die Augenbrauen zusammen. »Geld habe ich genug«, antwortete er.
Sein gekränkter Tonfall verwirrte Dinah nur noch mehr.
»Was mir fehlt, ist eine Königin«, fuhr er fort und suchte ihren Blick.
Verständnislos starrte sie ihn an.
»Immer, wenn ich Euch sehe, muss ich daran denken, wie es wäre, Euch an meiner Seite zu haben«, sagte er leise.
Dinah schnappte ungläubig nach Luft.
»Ihr seid ja vollkommen verrückt! Denkt Ihr tatsächlich, Ihr könntet meine Liebe erzwingen, indem Ihr mich gegen meinen Willen entführt?« Mit jedem Wort schraubte sich ihre Stimme in höhere Tonlagen hinauf. Khan Bassam hob abwehrend die Hände.
»Natürlich will ich Eure Liebe nicht erzwingen! Aber hättet Ihr mein Werben denn gehört? Hättet Ihr Euch aller Vorurteile zum Trotz die Mühe gemacht, mich kennenzulernen, mich, den Barbaren aus der Wüste?« Er sah sie herausfordernd an. Seine Selbstsicherheit war zurückgekehrt.
Dinah setzte zu einer trotzigen Antwort an. Doch dann klappte sie den Mund wieder zu. Wenn sie ehrlich war, so hatte er durchaus recht. Von Anfang an hatte er ihr gefallen, doch wenn sie an die Standpauke ihrer Mutter dachte, fühlte sie sich noch immer unwohl. Vermutlich hätte sie sich wirklich durch ihre Eltern und die Stimmen, die in Samarqands Straßen allerlei Geschichten über diesen Mann flüsterten, beeinflussen lassen. Der Name Khan Bassam wurde in ihrer Heimat durchaus in Ehrfurcht ausgesprochen. Doch diese Ehrfurcht war nicht aus Respekt geboren, sondern aus Angst. Ihre Eltern hätten es niemals akzeptiert, dass ihr ein Mann den Hof machte, von dem man sich erzählte, dass er seinen Feinden die Köpfe abschlug und sie den Wüstengeistern als Opfergabe darbrachte. Sie mochte es sich kaum eingestehen, doch was er sagte, war nicht so absurd, wie es im ersten Moment klang.
Khan Bassam lehnte sich seufzend zurück. Mit ihrem Schweigen hatte sie seine Befürchtungen bestätigt und ihm indirekt recht gegeben. Eine Zeit lang sagte niemand etwas. Dinah lauschte dem Stöhnen der gigantischen Maschine, in deren Inneren sie sich befanden, und dachte angestrengt über diese wahnwitzige Situation nach. Durch sein Geständnis hatte Khan Bassam etwas von seiner Bedrohlichkeit verloren, wenngleich er nach wie vor einen respekteinflößenden Eindruck auf Dinah machte.
Auch ein Funken Wut war aufgeflammt in dem Sammelsurium aus Emotionen, das in ihrer Brust rotierte. Mochten seine Absichten auch nicht die Schlechtesten sein, so war er doch gewaltsam in den Palastgarten eingedrungen, hatte ihre Schwester und den kleinen Zayriddin bedroht und sie entführt.
Ihre Gefühle und Gedanken beschäftigten sie so sehr, dass sie nicht bemerkte, wie schnell die Zeit verging. Erst als das Zittern und Ächzen um sie herum abebbte, wurde ihr klar, dass sie eine ganze Weile unterwegs gewesen waren.
»Wo sind wir?«, fragte sie.
»Am Palast, der nicht gefunden werden kann.« Er erhob sich und reichte ihr die Hand. Dinah ignorierte sein Angebot, ihr aufzuhelfen, mit trotzigem Blick. Wenn er dachte, sie würde ihm nach einem kleinen emotionalen Plausch gleich alles andere nachsehen, so hatte er sich gründlich getäuscht. Im Augenwinkel meinte sie, ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht huschen zu sehen. Dinah fühlte sich provoziert, doch sie versuchte, das zu ignorieren. Dieser Mann war wirklich anders als die Männer ihrer Heimatstadt. Zumindest in diesem Punkt hatten die Samarqander Flüsterstimmen nicht übertrieben.
Sie gingen in den Vorraum zurück, in dem ihnen beim Beginn ihrer Reise die Pferde abgenommen worden waren. Von den Tieren sah sie keine Spur, doch die Männer und Frauen, die für das mächtige Stahltor zuständig waren, hatten bereits Stellung bezogen. Die Ketten klirrten, und die Rampe setzte sich knirschend in Bewegung. Der Spalt, der bislang nur einen Streifen des Himmels zeigte, wurde mit quälender Langsamkeit breiter. Dinah stellte sich gespannt auf die Zehenspitzen, um so bald wie möglich einen Blick auf ihren Zielort zu erhaschen. Was würde sie jetzt wohl erwarten?
Kapitel 5
Das Tor des Wüstenschiffes gab den Blick frei auf eine blühende und betriebsame Oase, die durch die tiefstehende Sonne in goldenes Licht getaucht wurde.
»Willkommen in Morwaride Kawir.« Khan Bassams Stimme klang warm wie die Abendsonne. Er schien diesen Ort zu lieben. Und Dinah konnte das auf den ersten Blick durchaus verstehen. Als das Ende der großen Metallrampe auf dem Wüstensand auftraf, gingen sie darauf hinunter, und Dinahs Blick wurde eingefangen von einer Allee aus zartblühenden Tamarisken, die den Weg zur Oase säumten.
Soweit Dinah sehen konnte, bestand der Ort überwiegend aus großen Gärten. Neben den verschiedensten Früchten, die dort angebaut wurden, entdeckte Dinah auch geheimnisvolle, runde Spiegel, die das Licht der Abendsonne reflektierten. Sie erkannte Dattelpalmen in der Ferne, allerlei Gemüsesorten und einen duftenden Garten mit Zitronen- und Orangenbäumen. In seiner Mitte befand sich ein Lager aus großen Kissen in leuchtenden Farben, die unter einem sonnengelben Stoffsegel zum Verweilen einluden.
Dinah hatte die Wüste immer für karg und unwirtlich gehalten. Eine solch lebendige Pracht inmitten endloser Sanddünen raubte ihr den Atem. Beeindruckt schaute sie sich weiter um. Hinter einem weitläufigen Garten, in dem Paprika und Auberginen leuchteten, zog das Klirren von Säbeln ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die fließenden Bewegungen der Krieger und Kriegerinnen, die dort gerade trainierten, glichen mehr einem Tanz als einem Kampf.
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