Es soll die Chancengleichheit bei der Rechtsdurchsetzung auch für finanziell schwächere Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von Einkommens- und Vermögensverhältnissen, und damit den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 GG wahren. 9
Auch dieser Personenkreis sollte sich seiner Rechte bewusst sein und seine berechtigten Interessen unabhängig seiner finanziellen Mittel durchsetzen können und nicht an finanziellen Nöten, Schwellenängsten oder aufgrund von Bürokratie scheitern. Klinge 10formuliert es als eine der „Wesensaufgaben“ des Rechtsstaates, dass er seine Bürger über die Existenz und das Ausmaß seiner ihm zur Verfügung stehender Rechte sowie deren Anwendung aufklärt.
Das Beratungshilfegesetz sichert damit den Bürgern mit niedrigem oder keinem Einkommengegen eine geringe Eigenleistung Rechtsberatung und Rechtsvertretung außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens und im so genannten obligatorischen Güteverfahren zu.
Ein weiteres Zieldes Beratungshilfegesetzes ist ferner, durch diese finanzielle Unterstützung Rechtsprobleme bereits im Vorfeldzu klären, um dadurch oft teurere und langwierige gerichtliche Verfahren zu vermeiden. Die Kunst des Rechtsanwaltes sei es, Prozesse zu vermeiden. 11Mit der Erweiterung der Beratungshilfe auf andere Beratungspersonen als Rechtsanwälte gilt diese Konzeption auch für diese.
5Die Ziele des Beratungshilfegesetzes lassen sich daher im Wesentlichen wie folgt zusammenfassen:
– Weiterführung des sozialen Rechtsstaatsprinzips,
– Hilfe, wo keine sonstige Hilfe existiert (Schließung der Lücken im Rechtsberatungssystem),
– Reduzierung von Schwellenängsten,
– Schaffung einer Möglichkeit der Verfolgung berechtigter Interessen,
– Ergänzung anderer Hilfen,
– Wahrung von Chancengleichheit,
– Entbürokratisierung bei Vorliegen von Problemen,
– Vermeidung von teuren und langwierigen gerichtlichen Verfahren.
6Sinn und Zweck von Beratungshilfe ist es jedoch nicht, dem Rechtsuchenden jede – und noch dazu zumutbare – Eigenarbeit zu ersparen oder gar eine eigene Rechtsabteilung zur Seite zu stellen. Dies wurde bereits im damaligen Gesetzgebungsverfahren deutlich. Unbemittelte brauchen auch nur solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, die bei ihrer Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigen und vernünftig abwägen. 12Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten stellt die Versagung von Beratungshilfegrundsätzlich auch keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit dar, wenn Bemittelte wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden. 13
Generell soll die Beratungshilfe auch nicht die von anderen, meist über besondere Sachkunde verfügenden Einrichtungen kostenfrei geleistete Beratung ersetzen, sondern diese ergänzen. 14
Im Zuge zuvor vorgeschlagener Reform en der Beratungshilfe 15und der dadurch veranlassten Praxisanhörungen wurde deutlich, dass diese Ziele teilweise in Vergessenheit geraten sind. Vielfach wird Beratungshilfe heutzutage wegen alltäglicher Problemebeansprucht, so z. B. wegen einfacher Sprach‑, Schreib- oder Verständnishilfen. Es dürfte absehbar sein, dass sich diese Entwicklung durch die wegen der Corona Pandemie erwartete wirtschaftliche Verschlechterung noch verfestigen wird. Gerade hierzu dient das BerHG jedoch nicht. 16
7Es ist daher nicht Zieldes Beratungshilfegesetzes
– eine zumutbare Eigenarbeit des Rechtsuchenden zu ersparen,
– eine angemessene Selbsthilfemöglichkeit zu ersetzen, 17
– eine Besserstellung der bedürftigen Partei gegenüber nicht beratungshilfeberechtigten Personen herbeizuführen, 18
– eine eigene Rechtsabteilung bereitzustellen,
– jedes alltägliche Problem zu lösen,
– gerichtliche Verfahren vorzubereiten,
– andere, meist über besondere Sachkunde verfügende Einrichtungen 19zu ersetzen,
– Schreib‑, Lese- oder Sprach- und Verständigungsprobleme zu beseitigen. 20
Die Beratungshilfe endet dort, wo sie den historischen Zielen dieser Gesetzgebung entgegensteht.
Zur weiteren Vertiefung wird auf die entsprechenden Bundestagsdrucksachen 21verwiesen.
7aDas Gesetz zur Modernisierung des notariellen Berufsrechts und zur Änderung weiterer Vorschriftenbeinhaltet auch an einigen wenigen Stellen eine Änderung der Vorschriften des BerHG.
Erfolgt sind hier jedoch in erster Linie eine übersichtlichere Gestaltung des BerHG durch die Einführung von Überschriften, die sprachliche Gleichstellung von Frau und Mann durch die Verwendung des bei beiden Geschlechtern gleichen Plurals, eine Vereinheitlichung der Terminologie innerhalb des BerHG sowie eine klarstellende Regelung betreffend der elektronischen Antragstellung. Liest man die Gesetzesbegründung, ist dabei keinesfalls beabsichtigt, an der bisherigen Rechtsprechung und Auslegung „zu rütteln“, insbesondere soll durch die Verwendung des Plurals nicht zum Ausdruck kommen, dass bei mehreren Antragstellern (in derselben Sache) mehrere Berechtigungsscheine zu erteilen wären. 22Nicht mehr zutreffende Übergangsregelungen wurden gestrichen. Im Folgenden wird an den jeweils entsprechenden Stellen im Praxishandbuch mittels einer Synopse zwischen bisheriger Rechtsnorm und den im Gesetz erfolgten Änderungen dargestellt, sh. hierzu Rn. 106a, 191, 208 und 236b.
II.Entwicklung der Beratungshilfe
8Das Beratungshilfegesetz ist nunmehr seit mehr als 40 Jahren in Kraft. Noch immer und trotz der stattgefundenen Reform werfen viele Bestimmungen in der Praxis Fragen auf, die der Gesetzgeber noch nicht hinreichend im Gesetz geregelt hat. Auch die letzte Reform konnte hier keine Abhilfe schaffen. Dies zeigt die Fülle an neuen Entscheidungen, die seither notwendig wurden. 23Trotz dieser Mängel ist das Gesetz von größter gesellschaftspolitischer Bedeutung. Es erfährt gegenüber den vergangenen Jahren zwischenzeitlich ein gestiegenes Maß an Aufmerksamkeit. Dies liegt auch an den in den vergangenen Jahren anhaltend hohen und künftig erneut steigenden Ausgaben – siehe aktuell hierzu das Gesetz zur Änderung des Justizkosten- und des Rechtsanwaltsvergütungsrechts (Kostenrechtsänderungsgesetz 2021 – KostRÄG 2021) 24- sowie an den in der Vergangenheit verabschiedeten unterschiedlichen Gesetzesvorhaben, die auch in das Gesetz zur Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts mündeten. 25
Durch die Reform im Jahre 2014 tauchten weitere und veränderte Fragestellungen auf, im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs (ERV) ergeben sich Unklarheiten, z. B. bei der elektronischen Einreichung von Anträgen und Erklärungen. Während im Rahmen der Festsetzung nach § 55 RVG bislang noch überwiegend der UdG des gehobenen Dienstes für die Gebühren- und Auslagenfestsetzung zuständig ist, laufen Bestrebungen – in manchen Ländern bereits Umsetzungen – diese im Rahmen des Projektes „KomPakT“ (Kompetenzen stärken, Potenziale aktivieren) bzw. im Rahmen des Vorhabens eines Gesetzes zur flexiblen Aufgabenübertragung in der Justiz, von der bisherigen Zuständigkeit des gehobenen Dienstes abzuweichen und eine Übertragung auf sonstige Mitarbeiter zu ermöglichen, was zweifelsohne neue Probleme aufwerfen wird (z. B. die Frage nach der Anzahl der Angelegenheiten oder der Erforderlichkeit einer Vertretung, die im Rahmen der Gebührenfestsetzung von diesen Mitarbeitern fachlich überprüft werden muss).
1.Betrachtung der Fallzahlen
9Die Anzahl der Anträge auf Beratungshilfeist seit Inkrafttreten des Gesetzes enorm gestiegen und anhaltend hoch. So wurden beispielsweise 2008bundesweit ca. 885.400Anträge auf Beratungshilfe gestellt, 1996waren es dagegen lediglich ca. 311.000Anträge. Bis 2010 ist die Anzahl stark angestiegen. In den Jahren 2011– 2013 waren die Zahlen leicht rückläufig, während sie in 2014 wieder anstiegen. Seit dem Jahr 2015 zeichnet sich ein Rückgang der Fallzahlen ab, wobei 2019 dieser stärker ausgefallen ist. Wie sich die im Jahr 2020 begonnene Corona-Pandemie auf die Antragszahlen auswirken wird, bleibt abzuwarten.
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