Lebensversicherungen, die der Arbeitgeber als Versicherungsnehmerzugunsten des Arbeitnehmers geschlossen hat (Direktversicherung nach den Vorschriften des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung – BetrAVG), kann der Arbeitnehmer nicht verwerten, 683da eine vollständige oder teilweise Auszahlung des Rückkaufswertes zudem arbeits- und steuerrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen würde.
99Die Frage der Verwertungspflicht einer als Kapitalwert verwertbaren Lebensversicherungist immer anhand des Einzelfalls zu beurteilen. 684
Grundsätzlich ist bei einer vorhandenen Lebensversicherung eine Verwertung zu bejahen– sei es im Wege der Beleihung 685oder im Wege der Realisierung des Rückkaufswertes– bevor die Solidarität der Allgemeinheit durch Gewährung von Beratungshilfe in Anspruch genommen wird. 686
Zunächst ist zu prüfen, ob die Lebensversicherung für die Altersvorsorge des Rechtsuchenden bestimmtist. Eine Lebensversicherung, deren Wert das Schonvermögen übersteigt, kann nämlich dann außer Betracht bleiben, wenn sie der Altersvorsorge des Rechtsuchenden dient und nur eine niedrige gesetzliche Rente zu erwartenist. 687Die Bestimmung ist nur anzuwenden, wenn erkennbar ist, dass die Alterssicherung dereinst unzureichend sein wird. 688Dies gilt dann, wenn der Rechtsuchende nach heutigem Stand voraussichtlich keine Rentenansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten wird. 689
Die Verwertung stellt in diesem Fall eine Härte dar, wenn die Aufrechterhaltung einer angemessenenAlterssicherung erschwert würde. 690Die Verwertung darf nicht in hohem Maße unwirtschaftlichsein. 691Ein vereinbarter Verwertungsausschluss gem. § 168 Abs. 3 VVGist zu berücksichtigen. 692
Andere Formen der Kapitalbildungsind grundsätzlich zur Finanzierung heranzuziehen, auch wenn diese der Altersversorgung dienen. 693Allerdings gelten die vorgenannten Grundsätze entsprechend.
Praxistipp:
Der Rechtsuchende hat die Darlegungspflicht, welche Alterssicherung er bisher erworben hat und warum diese künftig nicht ausreicht. 694In Zeiten strapazierter Rentenkassen sollte man hier aber nicht allzu kleinlich verfahren. 695Ob der Einsatz unzumutbar ist und ein Härtefall i. S. d. § 115 Abs. 3 ZPO i. V. m. § 90 Abs. 3 SGB XII darstellt, ist jeweils anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls zu prüfen. 696
Die Verwertung der Lebensversicherung ist unzumutbar, wenn diese mit überwiegender Wahrscheinlichkeit der Altersvorsorge dient 697und die Aufwendungen hierfür unterhalb von 4 % des Gesamtbruttoeinkommens liegen. 698
Grundsätzlich ist daher anhand der vertraglichen Ausgestaltung des Versicherungsvertragszu prüfen, ob das gebundene Kapitel für eine Altersvorsorge entsprechend bestimmt und geeignet ist. 699Unverbindliche Absichten oder Behauptungen reichen nicht aus, der Rechtsuchende könnte ansonsten das Kapital hieraus auch anderweitig nutzen.
Maßgebliche Kriterienfür die Wahrscheinlichkeit der Verwendung zur Altersvorsorgekönnen dabei insbesondere sein:
– die Laufzeit des Vertrages in Relation zum Alter der bedürftigen Partei ( Fälligkeit);
– eine Ausgestaltung der vertraglichen Leistung als Rente für die Alterssicherung ( Zweckbindung);
– die Höhedes zu erwartenden Rückkaufwertes.
Die Frage der Angemessenheitder Alterssicherung kann sich daran orientieren, dass der Rechtsuchende im Rentenalter ohne die entsprechende Lebensversicherung voraussichtlich sozialleistungsbedürftigwird. 700In der Praxis ist diese Einschätzung sehr schwierig, da sie von vielen noch unbekannten Faktoren abhängig ist.
Dies kann z. B. auch anhand der bereits erworbenen Entgeltpunkte im Rahmen von Versorgungsanwartschaftenbeurteilt werden. Es kann ermittelt werden, welche künftige fiktive Altersrente der Rechtsuchende erwerben kann. Zur Berechnung kann der bis zum Renteneintritt verbleibenden Zeitraum, die Berücksichtigung von Teil- oder Vollerwerbsfähigkeit sowie der durchschnittliche Jahresbruttolohn ermittelt werden. Hieraus ergibt sich, wie hoch die weiteren pro Berufsjahr anfallenden Entgeltpunkte multipliziert mit dem aktuellen Rentenwert sind. 701
Beispiel zur Berechnung nach Entgeltpunkten (angelehnt an OLG Koblenz, FamRZ 2016, 393)
Die Rechtsuchende ist im vorliegenden Fall 44 Jahre alt, sie ist aktuell zu einer Erwerbsleistung im Rahmen einer 30-Stunden-Woche fähig, verfügt über ein mon. Nettoeinkommen i. H. v. ca. 1.650,00 EURO/mon. Bruttoeinkommen i. H. v. ca. 2.400,00 EURO. Im vorliegenden Fall hatte sie bis zum Eheende bereits 17,7476 Entgeltpunkte erworben, hinzukommen weitere 4,4798 Entgeltpunkte im Rahmen des VA-Verfahrens.
Anmerkung: Sollte in dem zu bewertenden Fall kein Scheidungsverfahren zugrunde liegen, wären die bis zur Bewertung im Rahmen der Beratungshilfe erworbenen Entgeltpunkte zu ermitteln.
Berechnung:
Das jährliche Bruttoeinkommen (hier im Fall: 28.800,00 EURO) ist durch das vorläufige Durchschnittsentgelt der gesetzlichen Rentenversicherung (für das Jahr 2021 beträgt dieses 41.541,00 EURO) zu dividieren, um die pro weiterem Berufsjahr zu erreichenden Entgeltpunkte zu ermitteln:
28.800,00 EURO ./. 41.541,00 EURO = rund 0,69 Entgeltpunkte pro weiterem Berufsjahr.
Der nächste Berechnungsschritt berücksichtigt die Zeit, die die Rechtsuchende voraussichtlich noch erwerbstätig ist (hier wird die Erwerbsleistung im Rahmen der 30-Stunden-Woche weiter zugrunde gelegt). Geht man von einer weiteren Erwerbstätigkeit von 20 Jahren aus, so ergeben sich hierfür 20 Jahre x 0,69 Entgeltpunkte/Berufsjahr, dies ergibt insgesamt 13,8 Entgeltpunkte. Zusammen mit den oben bereits erworbenen Entgeltpunkten (17,7476 + 4,4798 = 22,2274) ergeben sich 36,0274 Entgeltpunkte.
Diese werden mit dem aktuellen Rentenwert (ab Juli 2020: 34,19 EURO) multipliziert, um den voraussichtlich zu erwartenden gesetzlichen Rentenanspruch nach derzeitigem Stand zu ermitteln:
36,0274 Entgeltpunkte x 34,19 EURO (akt. Rentenwert) = 1.231,78 EURO
Hieran kann dann beurteilt werden, ob neben diesem Wert eine weitere ergänzende Altersvorsorge aus einer Lebensversicherung notwendig ist.
Eine Angemessenheit kann auch anhand der in § 42 SBG XIIaufgeführten Versorgungsleistungen gemessen werden. Z.B. wurde eine Altersrente für einen 67-jährigen in Höhe von 951,91 EURO/mon. als ausreichend betrachtet. 702
Es kann in diesem Zusammenhang auch die Frage gestellt werden, welche Altersvorsorge kann der Rechtsuchende ohne den entsprechenden Teil der zu verwertenden Lebensversicherung noch erzielen 703und welche künftigen Erwerbsmöglichkeiten bieten sich ihm noch. 704Beispielsweise ist die Lebensversicherung eines 38-jährigen Berufstätigen, die seiner Altersvorsorge dienen soll, einzusetzendes Vermögen.
Die entsprechenden Aspekte hat – wie oben bereits erwähnt – der Rechtsuchende schlüssig darzulegen. 705Ergibt die Prüfung, dass die Vermögensbildung nicht der Altersvorsorge dient, so steht das Kapital dem Rechtsuchenden nach Auszahlung frei zur Verfügung. In diesem Fall ist es unter Berücksichtigung des Schonvermögens für die Kosten des Prozesses heranzuziehen.
Die Lebensversicherung eines Selbständigendient in der Regel der Altersvorsorgeund kann daher außer Betracht bleiben. 706Grundsätzlich ist es einem Selbständigen überlassen, wie er für sein Alter vorsorgt. Daher ist bei einem ausschließlich selbständig Tätigen auch ein Betrag in der Höhe, der ein in vergleichbarer Weise nicht selbständig Tätiger als Anwartschaft in einer gesetzlichen Rentenversicherung erworben hätte, ein möglicher Härtefall gem. § 90 Abs. 3 SGB XII. 707Betreibt ein Selbständiger zum weit überwiegenden Teil seine Altersvorsorge mit privaten Renten- und Lebensversicherungen und liegen die Renteneinkünfte zum Zeitpunkt des regulären Renteneintritts voraussichtlich im Bereich des Sozialhilfeniveaus, so ist eine Verwertung nicht zumutbar. 708
Читать дальше