Kapitel 2
Wahrheit oder Albtraum?
- Von Hexen und Amazonen -
Hoch oben tauchte die tatendurstig aufgehende Sonne Gipfel und Grade der umliegenden Berglandschaft in verheißungsvoll warme Farben, wurde dafür von einem mehrstimmigen Chor verschiedenster Singvögel freudig willkommen geheißen. Nur widerwillig lüftete der geisterhafte Nebel an den Hängen und auf den Wiesen seine Schleier. Der Frühlingsmorgen in der andalusischen Sierra Nevada folgte damit einem gewohnten Ritual seit Menschengedenken, wie es trotzdem nie zur Gewohnheit werden konnte, sofern es ein Mensch verstand, aus dem tiefen Frieden jenseits zivilisierten Wahnsinns Kraft zu schöpfen.
Doch im Hintergrund wich etwas von jener eingeschworenen Harmonie ab, ohne dabei als störend ins Gewicht zu fallen – ein eigenwilliges Klangmuster, nicht aufdringlich, aber doch rhythmisch. Bei näherer Betrachtung war es eine schnelle Abfolge dumpfer Krafteinwirkung. Die Quelle wurde vom Nebel eifersüchtig gehütet, so als ginge es um ein Geheimnis. Doch während das zu Hörende – immer wieder variiert und von gelegentlichen Pausen begleitet – sich fortsetzte, gewann die wärmende Sonne immer mehr die Oberhand, gab schließlich den Blick frei auf saftiges Grün.
Der hochgewachsene, muskulöse Mann von Anfang dreißig bearbeitete einen Sandsack abwechselnd mit Fäusten, Ellenbogen, Knien und Fußtritten. Die Schlag- und Trittkombinationen gegen das robuste Leder mit wohlverdienter Alterspatina erfolgten geschmeidig, koordiniert, auf den Punkt, wodurch selbst dieses vom Ast eines altehrwürdigen Laubbaumes hängende schwere Trainingsgerät in Bewegung versetzt wurde. Der Schweiß lief in Strömen, nährte den Stoff des ärmellosen Sportshirts, während der dunkelhäutige Athlet mit den feinen Gesichtszügen irgendwo zwischen Konzentration und Geistesabwesenheit gefangen zu sein schien.
Die vierhundert Jahre alte Korkeiche mutete in ihrer Erscheinung – mit der nie geernteten zerfurchten Rinde und den weit ausladenden verknöcherten Ästen – wie ein betagter und vom Leben gepeinigter Boxtrainer an, der seinem Schützling wild gestikulierend Anweisungen zurief. Und tatsächlich begegnete Bonifacius Kidjo diesem Wunder der Natur mit tiefem Respekt, teilte mit ihm seine Gedanken und Sorgen. Genau genommen handelte es sich auch nicht um eine ordinäre Korkeiche von vielen, schon deshalb nicht, weil das Überleben einer solchen in dieser Höhenlage an ein botanisches Wunder grenzte. Ganz alleine stand sie da, getrennt von ihresgleichen. Das Wirken spiritueller Urkräfte stand für den Deutschen außer Frage – einer der Gründe, die ihn vor Jahren zum Kauf des Grundstückes bewogen hatten. Und wenn dieser Methusalem der andalusischen Bergwelt dazu imstande gewesen wäre, so hätte er dem geneigten Beobachter zweifelsohne davon berichten können, was den Schützling unter seinem Blätterwerk zu solch entfesseltem Training anstachelte.
Bonifacius wurde getrieben von einem Albtraum, einer Vision oder Vorankündigung, die ihn in der vergangenen Nacht ereilt hatte. Nie zuvor hatte er solche Schreckensbilder empfangen, derart surreal und doch irgendwie real. – Während der Journalist seinen Körper weiter forderte, stellte sich sein Verstand nochmals der Ursache für die innere Unruhe:
Atemlos hetzt der Träumende durch einen düsteren Wald, während feuchtkalter Wind ihm den morbiden Geruch von Krankheit und Tod in die Nase treibt. Unablässig raschelnd regnet es verdorrte Blätter, und substanzlose Schatten scheinen danach zu trachten, den einzigen Menschen an jenem unheilvollen Ort einzukreisen. Bonifacius will umkehren, will entkommen. Doch es liegt nicht in seiner Macht. Der Körper gehorcht nicht mehr dem Überlebenstrieb. Plötzlich sind es schwärzeste Dunkelheit und tropische Pflanzenriesen, welche sich auf ihn zubewegen, dass es ihm die Kehle zuschnürt. Eine Eule überfliegt die Szenerie rückwärts, und eine unsichtbare Macht zwingt ihn, zum dichten Blätterdach emporzuschauen. Die Dunkelheit hat mittlerweile alles zwischen Himmel und Boden in ein alles verzehrendes Schwarz getaucht, hat es geradezu verschlungen. Dann sieht er sie, rot funkelnde Augenpaare. Erst wenige, dann immer mehr. Von weit oben starren sie ihn an – lüstern, bösartig, blutdürstig. Alles an diesem Ort scheint verkehrt zu sein, widernatürlich und feindselig, aus dem göttlichen Gleichgewicht geraten. Wieder versucht Bonifacius in panischer Verzweiflung zu entkommen, sich der Blicke dieser Kreaturen zu entziehen. Doch je größer die Verzweiflung, desto mehr rote Lichtpunkte werden es – ein Sternenzelt direkt aus der Hölle. Er weiß, es geht um ihn. Schließlich fügt er sich in sein Schicksal, stellt jede Anstrengung ein, erwartet das Unvermeidliche. Jetzt erst werden die Lichtpunkte größer, immer größer. Was auch immer sich hinter ihnen verbirgt, es kommt langsam aber unaufhaltsam näher. Ohne die Chance auf Flucht erwacht der Kampfgeist in dem Gefangenen des eigenen Traumes. Sein entschlossener Blick fällt auf die gesichtslosen Kreaturen, die augenblicklich innehalten. Deren Augenpaare verschwinden so spurlos, wie sie zuvor erschienen sind.
Als wäre im Bruchteil einer Sekunde eine neue Theaterkulisse aufgezogen worden, präsentiert sich im Wald ein gänzlich neues Schauspiel, wenngleich nicht weniger surreal und verstörend. Im Schein brennender Scheiterhaufen werden viel zu große Geier sichtbar, die zwischen den Bäumen kreisen. Ihr ohrenbetäubendes Kreischen wirkt wie das scharfe Kratzen auf einer Maltafel – schmerzvoll und nervenzerfetzend. In ihren Klauen halten sie nackte Menschen gepackt, die sich aus Furcht und Entsetzen winden. Die durchweg dunkelhäutigen Opfer scheinen dem Wahnsinn nahe, als sie nacheinander über einer Grube voller zuckender Leiber fallengelassen werden. Selbst die Flammen der Scheiterhaufen verstoßen gegen alle Gesetze der Natur, so wie diese sich dem Boden anstatt dem Himmel entgegenstrecken und die Umgebung dabei in ein intensives grünes Licht tauchen.
Eine weibliche Gestalt mit bis zum Weiß der Augäpfel verdrehten Augen und dem zu einer grinsenden Fratze verzerrten Gesicht, kopuliert völlig enthemmt mit einem Wildschwein. Wenige Meter weiter verspeist eine andere entmenschlichte Gestalt, die einmal eine Frau gewesen sein mag, das abgerissene Bein eines Kleinkindes. Gierig beißt sie große Stücke heraus und verschlingt diese, während blutiger Speichel spritzt und am verschmutzten Körper herab auf den Boden tropft.
Bonifacius verspürt den Drang, in die wieder sichtbaren Baumkronen hinauf zu schauen. Eine Heerschar weiterer Hexen hängt reglos mit den Köpfen nach unten in den Bäumen, nackt, ihre blutunterlaufenen Augen starr auf ihn gerichtet. Erst eine Bewegung in unmittelbarer Nähe erlöst den zentralen Protagonisten aus seiner Erstarrung. Ein älterer Schwarzer mit weißem Vollbart und gütigen Gesichtszügen, außerdem in edlem Gewand, reicht ihm die Hand. Doch noch bevor der Träumende zugreifen kann, wird er von neuem abgelenkt. Nahe der mit gequälten Menschen gefüllten Grube manifestiert sich eine Gestalt – verhüllt von einem dunklen Umhang mit Kapuze – die mit ausgestreckten Armen gegen die Opfer gerichtet offensichtlich magische Formeln spricht. Von unbeschreiblichen Krämpfen erfasst, zucken und winden sich die Leiber umso mehr. Doch damit nicht genug. In einer steigenden Spirale des Entsetzens muss Bonifacius hilflos mitansehen, wie der Peiniger feierlich zwei transparente Behälter mit unterschiedlichen Flüssigkeiten hochhält. Daraufhin überschlagen sich die Ereignisse. Die verhüllte Gestalt wendet sich in einer abrupten Drehung ihm zu, mit schrillem Kreischen, welches dem der Geier entspricht. Anstelle eines Gesichtes verbirgt die Kapuze nichts als Finsternis. Der vermeintlich zu Hilfe geeilte ältere Mann – kurzzeitig in Vergessenheit geraten – ist ebenfalls nicht, was er vorgab zu sein. Die Verwandlung in eine riesenhaft bedrohliche Schlange hält den Träumenden in Schach. Zu allem Überfluss beginnen die Hexen, sich von den Bäumen zu lösen und nach unten zu schweben. Dort angekommen, kreisen sie ihren auserkorenen Feind ein – nach wie vor lüstern, bösartig und blutdürstig.
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