Inhaltlich strukturiert ist das Buch wie folgt: Im ersten Teil wird in der Form einer Einführung grundsätzlich nach der Bedeutung von Systemtheorie und systemischer Praxis für die Soziale Arbeit gefragt. Im zweiten Teil des Buches wird ein Theorie-Netz aufgebaut. Dabei werden jeweils systemtheoretische Fragestellungen und Zugänge zur Theorie angeboten, um dann die Leistungspotenziale der Theorie für die Soziale Arbeit einzufangen. Im dritten Teil bieten wir Zugänge zu grundlegenden Handlungsorientierungen systemischer Praxis. Dabei werden die besonderen Bedingungen Sozialer Arbeit berücksichtigt und Begriffe zur differenzierten Beobachtung und Beschreibung professioneller Situationen angeboten.
Die 2. Auflage geht direkter auf die gesellschaftlichen Herausforderungen der Sozialen Arbeit ein. Der ökologische Wandel, die Folgen der Veränderungen des Klimas, die Digitalisierung und die Spaltung der Gesellschaft verändern das Umfeld und die Soziale Arbeit. Die Möglichkeiten, darauf aktiv und mit an sozialer Freiheit ausgerichteten Antworten zu reagieren, sollen durch den hier vertretenen Ansatz gestärkt werden. Die neue Auflage bringt mehr Vielfalt im Hinblick auf eine gendergerechte Sprache. Grundsätzlich sind immer alle Geschlechter und Identitätsformen gemeint. Der Mix aus alten und neuen Texten führt zu einem unsystematischen Wechsel der Sprachformen, wir hoffen aber, Sie finden sich hinreichend berücksichtigt und können die Texte mit Gewinn lesen.
1Einführung |
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Das Einführungskapitel möchte einen Brückenschlag zur Systemischen Sozialen Arbeit eröffnen, der im gesamten Buch weiter geführt und im Einzelnen begründet wird. Zunächst klären wir den Nutzen dieser Perspektive und interpretieren die theoretische Ausgangslage. Dabei konzentrieren wir uns auf die „Passungen“, die Basisargumente und die zentralen Zugewinne dieses Vorgehens. |
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1.1Systeme und Systemtheorie |
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Seit der Antike wird darüber nachgedacht, wie Zusammenhänge in der beobachteten Vielfalt zu beschreiben sind und wie Ordnung in die Pläne kommt, nach denen vorgegangen wird. Als besonders attraktiv haben sich die Auseinandersetzungen um sich ,selbst ordnende Zusammenhänge‘ herausgestellt. Hier werden wesentliche Vorteile, Besonderheiten, Inhalte und Kontroversen des Systembegriffs vorgestellt. |
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1.1.1Die Vorzüge systemischen Denkens |
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Soziale Arbeit hat es mit vielen unterschiedlichen Interessen und Perspektiven zu tun. Es ist beispielsweise oft nicht klar, wer Auftraggeber ist oder wie aktuelle und längerfristige Ziele zusammenhängen. Systemtheoretische Überlegungen helfen bei solchen Ausgangslagen, fachliche Positionen zu bestimmen, Orientierungen in komplexen Situationen zu gewinnen und Interessen der Adressaten zu berücksichtigen. Eines der Motive, sich mit Systemtheorie zu beschäftigen, liegt daher in dem Mehr an Klarheit in Bezug auf eigene Zuständigkeiten und im Zugewinn von Sicherheit im Umgang mit komplexen Ansprüchen an die Soziale Arbeit. |
komplexe Anforderungen |
Der allgemeine und häufige Gebrauch des Begriffs System führt aber auch zu Unklarheiten. Dies begründet die Notwendigkeit, sich genauer mit dem Verständnis von Systemtheorien und ihren Begriffen in der Sozialen Arbeit vertraut zu machen – auch, um sie kritisch betrachten zu können. Für das professionelle Mitgestalten des sozialen Zusammenlebens ist es notwendig, verantwortlich mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen des Wirkens umzugehen. |
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Die Systemtheorie, wie sie im Folgenden vermittelt wird, setzt bei genau dieser Verantwortlichkeit an. Sie lässt Soziale Arbeit nicht bei ihren Adressaten oder bei Problemen beginnen, sondern bei der Beobachtung der eigenen Konzepte und des eigenen Handelns. Dieses auf die eigenen Gedanken, Handlungen und Voraussetzungen gerichtete, prüfende Nachdenken ist kennzeichnend für die reflexionsbasierte Profession Soziale Arbeit (Dewe / Otto 2002, 2011) und zugleich für angewandte Ethik. |
Selbstbeobachtung Sozialer Arbeit |
Die zunächst schwierige und abstrakte Sprache der Systemtheorie ermöglicht die Beschreibung von unterschiedlichen Zusammenhängen (z. B. biologischen, psychischen, organisatorischen und gesellschaftlichen) mit einheitlichen Begriffen. Eine Folge dieser Abstraktion ist, dass systemtheoretische Theorien und Analysen keine eindeutigen Rezepte richtigen Handelns liefern. Wenn man so will, ist Systemtheorie für sich genommen zunächst inhaltlich offen und – bezogen auf ihre Ausrichtung an menschlichen und sozialen Werten – interpretationsbedürftig. Erst durch die ,Selbstverarbeitung‘ der Theorie durch die Soziale Arbeit gewinnt Systemtheorie unmittelbar an Bedeutung. |
Interpretationsbedürftigkeit |
Sie ähnelt in diesem Sinne einem Werkzeug. Welche Rahmen und Bezugspunkte der Sozialen Arbeit im praktischen Handeln jeweils wichtig sind, bestimmt sie auch unter Zuhilfenahme von Wissen aus anderen Wissenschaftsbereichen, wie z. B. der Soziologie oder dem Recht. Soziale Arbeit könnte ihre Entscheidungen jeweils auch an anderen Erklärungszusammenhängen ausrichten. Daher braucht sie eine Theorie, die beobachter- und kontextbezogenes Denken fördert. Genau dies leistet Systemtheorie. |
Systemtheorie als Werkzeug |
1.1.2Die Besonderheiten systemischen Denkens |
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Es gibt verschiedene Arten der Beschreibung von Menschen. Dies kann beispielsweise geschehen über |
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●Eigenschaften (Person X ist liebenswert), |
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●Aussagen (Person X gibt an, Tee zu mögen statt Kaffee) und |
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●Zugehörigkeiten (Person X kann beschrieben werden als zugehörig zu einer Organisation, sozialen Gruppe, Schicht, Klasse oder einem Milieu). |
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Im Gegensatz zu einem Denken, das sich durch die Beschreibung von Eigenschaften kennzeichnet, die bestimmten Objekten oder Personen zugeordnet werden, orientiert sich systemische Theoriebildung an |
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●Relationen (orientiert an Beziehungen), |
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●Rückwirkungen (orientiert an Zirkularität) und |
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●zeitlichen Prozessen (orientiert an Stabilität und Veränderungen). |
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Diese Merkmale werden im Folgenden kurz veranschaulicht. |
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Beziehungsorientierung |
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Abb. 1: Bedeutung von Mustern |
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Beziehungen zwischen Einzelelementen |
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Wenn eine Melodie in der Notenschrift auf Papier gebracht ist, sind dort die einzelnen Töne beschrieben. Hört man nun jeden einzelnen Ton und macht dazwischen eine längere Pause, hat man zwar alle Töne nach einiger Zeit wahrgenommen, die Melodie aber trotzdem nicht gehört. Die Melodie scheint nicht in den einzelnen Tönen zu stecken (denn diese kommen z. B. auch in anderen Kombinationen vor), sondern in einem spezifischen Muster. |
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Beziehungen sind nicht auf der einen oder anderen Seite von Elementen oder Personen zu entdecken, sondern zwischen ihnen. Mit dem Begriff Relationen werden Verbindungen beschrieben, die aber keine Interaktionsbeziehungen sein müssen. |
verbindende Relationen |
Rückwirkungen |
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Die Beschreibung von Rückwirkungen auf Ausgangszustände führt zu einer veränderten Sichtweise von Zusammenhängen. Nicht mehr die einseitige Wirkung von A auf B leitet die Beschreibung von Rückwirkungen auf Ausgangszustände, sondern auch Rückwirkungen, die von B auf A beobachtbar sind. Dieses Prinzip ist Grundgedanke aller ökologischen Überlegungen und wird hier am Verhalten von Personen veranschaulicht. |
Rückwirkungen statt einseitiger Kausalitäten |
Abb. 2: Rückwirkungen |
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Diese Rückbezüglichkeiten führen nach einer Weile dazu, dass nicht mehr klar ist, was zuerst war. Das Verhalten von A wird durch das Verhalten von B beeinflusst und das Verhalten von B durch das Verhalten von A. Ebenso klar ergibt die Alltagsbeobachtung, dass in solche Rückkopplungsprozesse C (und D usw.) einbezogen sein kann. Die Schwierigkeiten der Zuordnung sind erheblich, weil sich die Prozesse überlagern können, gegenläufig sind oder sich auf verschiedenen Ebenen vollziehen. |
Rückkopplungsprozesse |
Stabilität und Veränderungen |
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Stabilisieren sich bestimmte Beziehungen und Feedbackschleifen im Lauf der Zeit, kann man versuchen, Strukturen oder Systeme zu entdecken. Die Beobachtung von Systemen über eine längere Zeit ermöglicht sowohl die Wahrnehmung von Stabilität als auch von Veränderung. |
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Systemwandel in der BiologieDie Amöben Dictyostelium disoideum bilden unter guten Nährstoffbedingungen eine Population von isolierten Zellen, die sich isoliert fortbewegen und durch Zellteilung vermehren. Bei knapper werdenden Nährstoffen schließen sie sich zu einem schneckenähnlichen Zellaggregat zusammen, das in eine nährstoffreichere Gegend kriechen kann. Eine Metamorphose ermöglicht die Herausbildung eines Stiels mit einem Sporenkopf, der Sporen abtrennt und verstreut – was den isolierten Amöben die Gründung einer neuen Kolonie ermöglicht. |
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Abb. 3: Lebenszyklus der Amöbe (Kriz 1999, 59) |
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Die Beobachtung des Lebenszyklus verdeutlicht, dass |
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1.ständiger Wandel zur Normalität des Kreislaufs gehört, |
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2.sehr unterschiedliche Zustände Bestandteil dieses Lebenszyklus sind, |
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3.die Beobachtung einzelner Stationen eine Auswahl durch den Betrachter bedeutet, |
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4.sich der Vorgang wiederholt, aber die Elemente bei aller Ähnlichkeit neue Elemente sind, und |
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5.erst eine Gesamtschau den Blick auf die grundsätzlich passenden Umweltbedingungen erlaubt. |
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Um Ihnen den Einstieg in systemische Überlegungen zu erleichtern, möchten wir Sie noch zu der folgenden kleinen Geschichte einladen. |
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Systemtheorie im Alltag |
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